Studienfahrt nach Berlin: Domschüler des 13. Jahrgangs aus Schleswig auf den Spuren der DDR
Er ist kaum größer als die Kleinsten unter den Schülern. Trotzdem überragt er sie alle mit seiner Geschichte. Mit Jeansjacke und gleicher Hose – so steht der etwas gedrungene Ostberliner vor den angehenden Abiturienten, die sich im Halbkreis um ihn scharen. Die Hände rutschen ihm immer wieder in die Hosentaschen. Sein schnörkelloses Berlinerisch und seine Worte sind Grund und kraftvoll genug um die gesamte Aufmersamkeit der 17-köpfigen Schülergruppe auf sich zu ziehen.
Karl-Heinz Richter, Jahrgang 1949: 1964 verhilft er 17 Freunden zur Republikflucht aus der DDR und wird, nachdem der eigene Sprung auf den Moskau-Paris-Express misslingt, schwerverletzt festgenommen und im Stasi-Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen interniert.
Dieser Ort im Berliner Nordosten, der heute “Dokumentations- und Begegnungszentrum” ist, war den DDR Bürgern nur als weißer Fleck auf den Stadtkarten bekannt. Bevor die Staatsicherheit der DDR dieses Gelände 1951 übernahm, befand sich dort in den Jahren 1945, -46 das Speziallager 3 der sowjetischen Besatzer, wo ca.1000 politische Gegner oder Personen, die dem sowjetischen System gegenüber als feindlich eingstuft wurden, den Tod fanden. In der DDR existierte dieses Gefängnis offiziell nicht. Genauso wie all die physische und psychische Folter, die den Inhaftierten dort von 1951 bis 1989 widerfahren ist. Unter ihnen war auch eine große Zahl von “Republikflüchtlingen” wie Karl Heinz Richter.
Der Himmel zeigt sich an diesem Spätsommertag bedeckt und grau. Unter ihm erstreckt sich eine karge Betonwüste. Dort, jenseits der Gefängnismauern, ergänzt der Zahn der Zeit das Bild wenigstens um einen weiteren Farbton: Rostbraun. Vor dieser Kulisse lauschen die Schüler dem Zeitzeugen, der mit einer gewißen Selbstironie beispielsweise über seine falsch zusammengewachsenen Knochen spricht. Diese seien Folge eines Sprungs aus sieben Metern Höhe und der Tatsache, dass man ihm in Hohenschönhausen keine Operation gewährt habe. “Sie wollten von Anfang an meine Widerstandsfähigkeit brechen.” Es ist Richters ganz persönliche Art der Vergangenheitsbewältigung die Dinge so zu nehmen wie sie sind - zur Not eben mit Humor. Die Schüler beeindruckt das. Genauso wie seine Standfestigkeit. Vereinzelnt wird geschmunzelt.
In seinem Buch "Im Moskau-Paris -Express in die Freiheit” schildert er wie sein Versuch über den genannten Zug in die Freiheit zu gelangen scheiterte und was er in “Berlin-Hohenschönhausen” erlebt hatte. Genau dort steht er ein halbes Jahrhundert später als Zeitzeuge des “brutalen SED-Regimes” vor seinem eigenen Spiegelbild. Keine 18 Jahre war er nämlich als seine persönliche Freiheit – zumindest vorerst- aufhörte zu existieren. Nur weil er sich nicht dem unterwerfen wollte, was allgemein galt: Andersdenken verboten!
Während die Schleswiger Schüler die tageslichtlosen Kellerzellen zu sehen bekommen, erzählt Richter von seinen Erfahrungen dort. Alles wirkt sehr präsent und real. Fußböden gibt es nicht. Jede einzelne der unterirdischen Zellen macht den Eindruck als sei sie aus einem einzigen Betonklotz ausgefräst worden. Richters Schilderungen von Schlafentzug und einer (nach achtwöchigem Waschverbot) von Wunden gekennzeichneten Haut, die es notdürftig mit Urin vor tödlichen Infektionen zu schützen galt, lassen einen das dort geschehene qualvolle Unrecht höchstens erahnen. Sein daraus resultierender Waschzwang, den er bis heute nur zum Teil ablegen konnte, ist nur eine der Spätfolgen.
Auf dem Weg durch den oberirdischen Komplex aus Gefängnis- und Verhörzellen wird den Schüler klar, dass Richter die ihm widerfahrenen persönlichen Erniedrigungen und Schikanen zwar noch heute anekeln, aber keineswegs in seiner Standhaftigkeit erschüttern. Eindrucksvoll beweist sich dies den Zuhörern, wenn er mal wieder angewiedert von den “Schweinen” spricht. Diese, so führt er aus, machten selbst nicht davor Halt seine brutal verhörte und vor dem psychischen Zusammenbruch stehende Freundinn als Druckmittel zu benutzen, um die Wahrheit aus ihm herauszuquetschen. “Das waren hochintelligente Psychologen”, betont er und lässt sich mit sichtlicher Genugtuung ganz legere auf einen Verhörstul fallen. Die Wahrheit, dass er seinen Freunden zur Flucht verholfen hat, haben sie trotzdem nie aus ihm herausbekommen. “Dazu war ich viel zu stolz. Ich hab mir immer gesagt ,Du kommst hier 'raus.” Dass es keinen Sinn hat zu hassen, wenn gleich sich die eigene Frau als Folge der psychologischen Folter der Stasi heute in einer geschlossenen Anstalt befindet, ist eine der Lehren, die Richter den Schülern mit auf den Weg gibt und ist gleichzeitig Symbol seiner großen Persönlichkeit.
Es hat angefangen zu nieseln. Nachdenkliche Stille herrscht auf dem Weg zurück zum Ausgang. Man passiert noch einmal vergitterte Fenster und grau verputzte Baracken. Einige suchen das Gespräch mit Richter. Auch seine Miene ist ernster geworden und sein Humor vom Anfang verflogen. Es scheint als hätte ihn die grausame Vergangenheit wieder eingeholt – zumindest für diesen Moment. Andere haben nicht nur die Bilder von Kaltblütigkeit und Folter bewegt, sondern vor allem die Tatsache, dass diese einen Mann von solcher Standfestigkeit heute noch emotional so tief berühren. Vereinzelt fließen Tränen.
“Ihr habt so ein Schwein gehabt in dieser Zeit zu leben,” ist ganz zum Schluss nicht nur ein impliziertes Plädoyer für die Demokratie oder der Aufruf an die angehenden Abiturienten sich einzubringen, sondern auch eine Tatsache, die die Besucher aus dem Norden der Republik feststellten als sie sich an den anderen Tagen ihrer Reise an der Bernauer Straße die spektakulären (Tunnel)fluchtversuche vor Augen führten oder einfach nur die Kultur- und Konsumvielfalt in der vereinten und prosperierenden Hauptstadt genossen.
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https://youtu.be/dc3EW7fgqk8
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[Bild:1]
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mxk
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