SPIESSER unterwegs

Mit Augen- und Mundschutz zur Unabhängigkeit

In der Türkei protestieren die Menschen seit vielen Monaten gegen Regierung und Staatsapparat. Die Polizeigewalt, der Vorwurf von Wahlfälschungen und das Missmanagement der Regierung, wie beim Bergwerksunglück von Soma, bestimmen das alltägliche Leben. SPIESSER-Autor Enis ist gerade am Bosporus und sagt euch, was Sache ist.

20. May 2014 - 15:03
SPIESSER-Autor derenis.
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derenis Offline
Beigetreten: 26.03.2010


Die Istiklal Caddesi in Istanbul – immer viel los!
Foto: Flickr-User anaru (CC BY 2.0)

Von wegen Unabhängigkeit. Die Istanbuler Istiklal Caddesi – die „Allee der Unabhängigkeit“ – ist nahe des Taksimplatzes gelegen nicht nur eine der belebtesten Straßen der Türkei, sondern auch Zentrum politischer Auseinandersetzung. Nach Gründung der türkischen Republik im Oktober 1923 wurde sie zu Ehren des türkischen Siegs gegen die Alliierten in Istiklal Caddesi umbenannt.

 

„Gaz yemek“

Gegen Ende des letzten Jahres fing dann alles an: Twitter und Youtube wurden erstmals gesperrt – es gab Proteste. Teile der Regierung wurde wegen Korruption verklagt und verurteilt – wieder gab es Proteste. Und schließlich fanden Ende März die Wahlen statt und laut vieler meiner türkischen Freunde auch Wahlfälschung. Was folgte, waren Proteste. Wo? Meistens auf der Istiklal. Von Unabhängigkeit jedoch keine Spur: „Gaz yemek“ – also das von der Polizeigewalt eingesetzte Gas essen – das mussten wir alle.

Unabhängigkeit? Von wegen!

Augen- und Mundschutz nicht vergessen!
Foto: Figen Sirel

Um in Istanbul ohne gesundheitliche Beschwerden demonstrieren zu können, brauchen wir mindestens Augen- und Mundschutz. Denn sobald die Polizisten, ohne ausgehende Gefahr von den Demonstrierenden, die erste Gaspatrone abgeschossen haben, ist es vorbei mit der Demokratie. Dann gehen die meisten nach Hause und erholen sich vom kratzenden Gas in der Lunge. Demokratie – im Keim erstickt; im wahrsten Sinne des Wortes.


Istanbul ist ansonsten ein schöner Flecken Erde.
Foto: Johanna Reichhart

Ich bin zwar nur für ein Jahr Erasmusstudent am Bosporus, jedoch ist nicht schwer mitzubekommen: Die türkische „Demokratie“ befindet sich im freien Fall Richtung Diktatur. In Istanbul spürt man förmlich die Anspannung in der Luft und man fragt sich, wann sich alles erneut entlädt – erneut nach den Gezi-Protesten vor knapp einem Jahr, die in meinen Augen unter anderem gezeigt haben: Die Türkei ist zu modern für eine Diktatur.

Doch Recep Tayyip Erdoğan, türkischer Ministerpräsident seit März 2003 und Vorsitzender der islamisch-konservativen Regierungspartei, polemisiert und provoziert. Erdoğan täuscht Souveränität vor, um seine Wähler nicht zu verlieren. Erdoğan führt die Türkei hinters Licht und widerspricht sich selbst, indem er Internetzensur mit dem Schutz desgleichen legitimiert.

Erdoğan, ein Scharlatan mit komfortabler Mehrheit?

Laut der letzten Parlamentswahlen vom 30. März 2014 führt die Regierungspartei mit über 44% der Stimmen immer noch mit großem Abstand vor der Opposition das Land an. Angeblich. Denn dass an diesem Tag in Dutzenden Städten für mehrere Stunden – mancherorts den ganzen Tag – der Strom ausgefallen ist, Wahlzettel im Dunkeln ausgewertet und sogar nicht ausgewertete Wahlzettel im Müll gefunden wurden, spielt offensichtlich keine Rolle. Innerhalb der Mahalle – der Nachbarschaft, in der die Menschen sich gegenseitig unterstützen und untereinander kennen – sind die Leute sich einig: Wahlbetrug.


Solange sich nicht verändert, wird weiter protestiert.
Foto: Figen Sirel

„Wir werden Twitter ausradieren. Es ist uns egal, was die internationale Gemeinschaft sagt“, teilte Erdoğan im März der Weltöffentlichkeit mit. Twitter ausradieren? Die Meinung der internationalen Gemeinschaft ignorieren? Wohl kaum. Erdoğans Internetzensur, legitimiert durch den angeblichen Schutz des türkischen Staates, steht symbolisch für den politischen Teufelskreislauf, in dem er sich befindet: Je mehr er verbietet, desto mehr werden die Menschen sich selbst die Dinge erlauben und einen Umweg zu ihrer individuellen Freiheit finden. Einfach die DNS-Adresse des Servers verändern und schon haben wir selbst in der Türkei Zugriff auf Youtube und Twitter, so einfach kann es sein.

Die türkische Luft brennt

Auch wenn man vom Widerstand auf den Straßen gerade nicht viel mitbekommt: Die Solidarität unter den Menschen wächst stetig an, und das ist toll. Nach den von den Cops erstickten Protesten am 1. Mai scheint im Moment nur ein Funke auszureichen, um das Fass zum Überlaufen zu bringen. Die türkische Luft brennt, spätestens seit den Gezi-Protesten, die in meinen Augen vor allem eines gezeigt haben: Unabhängigkeit muss und kann man sich wieder erkämpfen in der Türkei – und das selbst auf der Istiklal. Nur eben Augen- und Mundschutz nicht vergessen!

Autor: Enis Wilmesmeier
Teaserfoto: Figen Sirel

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