SPIESSER-Autorin Lara verbringt ein Jahr an der Fudan Universität in Shanghai. Luftverschmutzung, Internetzensur und das Leben im bevölkerungsreichsten Land der Welt – hier erzählt sie euch von ihren ersten Eindrücken.
Die Chinesin neben mir rückt immer näher, plötzlich tippt sie mir auf die Schulter. In schnellem Mandarin versucht sie mir irgendetwas zu erklären, zeigt auf die Zeichen, die ich gerade reihenweise in mein Notizbuch gekritzelt habe und lächelt mich dabei an. „Tīng bù dǒng“, erkläre ich schulterzuckend, „ich verstehe nicht.“ Die Frau lacht und schnappt sich meinen Stift. Strich für Strich malt sie mir die Zeichen vor und zeigt mit wilden Gesten, wo sich meine davon unterscheiden. Gleichzeitig quetscht sie mich fröhlich schnatternd auf Chinesisch aus: Wo komme ich her? Was mache ich hier? Oh, die Fudan! Eine gute Universität! An der East Nanjing Road schlüpft sie plötzlich durch die Massen im Wagen auf den Bahnsteig. Schon verlier ich sie aus den Augen.
Luft anhalten und durch
Im Finanz- und Geschäftszentrum in Pudong
bietet sich Besuchern dieser Blick gen Himmel.
So etwas kommt in Shanghai nicht selten vor. Die Menschen tragen eine unglaubliche Offenheit in sich und freuen sie riesig, wenn sie auf einen „lǎowài“, einen Ausländer, treffen. Besonders in den Provinzen, fernab der bunt durchmischten Metropolen, müssen offensichtlich Fremde mit einem enormen Überschwang rechnen: Foto hier, Foto da. Blasse Haut und blonde Haare sind besonders beliebt, persönliche Distanzgrenzen schnell überschritten. Aber wem will man das übel nehmen?
Egal, ob Rushhour in der Metro oder eine Hauptstraße irgendwo in der Stadt: Platz hat man nie. Schon morgens um acht gleicht der Öffentliche Personennahverkehr einem Überlebenskampf. Selbst Businessmänner werfen sich bei schließenden Türen noch in überquellende Metrowagen, um keine fünf Minuten länger auf den nächsten Zug warten zu müssen. Im Straßenverkehr braucht man seine Augen überall und sollte sich keine unkonzentrierte Sekunde erlauben. Hier gilt das Gesetz des Stärkeren. Gebremst wird nicht, es gibt doch Hupen.
Der Verkehr ist bestes Sinnbild für eine Stadt, die niemals ruht. Wer sich in Shanghai unter die 22 Millionen Einwohner mischt, wird in ein Meer voller Möglichkeiten geworfen. Ausländische Studenten werden mit Praktikantenstellen und Jobangeboten als Fremdsprachenlehrer, sogar in staatlichen Schulen, praktisch überschüttet. Dabei ist das Arbeiten mit Studentenvisum und ohne Genehmigung von der Uni illegal. Dubiose Vermittler locken mit attraktiven Stundenlöhnen und kehren die strengen Auflagen unter den Teppich. Wer erwischt wird, verliert sein Aufenthaltsrecht. Weder die Uni noch das eigene Konsulat könnten dann noch helfen.
Zensiert wird vor der Klausur
In den Foreign Student Dormitories wohnen
ausländische Studenten strikt getrennt von ihren
einheimischen Kommilitonen.
Dazu kommen die politischen Einschränkungen. Im ersten Semester beschäftigte ich mich in meinen Kursen mit der chinesischen Perspektive auf internationale Beziehungen und das Weltgeschehen. Um streitbare Themen wie Tibet oder Taiwan machten unsere Professoren aber einen großen Bogen. Als eine Kommilitonin wagte, für die Souveränität von Tibet zu argumentieren, machte der chinesische Dozent sie in einem halbstündigen Monolog zur Schnecke. Dem Rest der Klasse empfahl er, sich in Zukunft an die Fakten zu halten, und nicht an wilde Theorien oder gar die eigene Meinung.
Wenn etwas im Unterricht unter den Tisch gekehrt wird, bekomme ich es sonst nicht so schnell mit. Weil meine VPN-Verbindung, mit der ich die „Große Chinesische Firewall“ umgehen kann, auf dem Unigelände nicht funktioniert, habe ich kaum Zugriff auf Facebook, Google oder internationale Zeitungen. Anfang Dezember, passend zur Prüfungszeit, wurde mal wieder Wikipedia blockiert. Das erschwert vielseitige Recherche, zumal die von den Professoren verschriebene Pflichtlektüre nur Loblieder auf die Kommunistische Partei und deren Politik singt. Menschenrechtsverletzungen? Ein Vorsatz der US-Regierung, um sich in die inneren Angelegenheiten Chinas einzumischen. Eine „politische Störung“ in Beijing im Jahr 1989? Ebenfalls auf die USA zurückzuführen. Bei der chinesischen Suchmaschine Baidu beschreibt der einzige verfügbare Artikel zu dem Thema das Tian’anmen Massaker als Mythos der westlichen Medien.
Und auch meine chinesischen Freunde lassen kein kritisches Wort über ihre Lippen kommen: „Der Kommunistischen Partei verdanken wir den heutigen Status von China“, erklärte mir mal eine Freundin, „deshalb finde ich es richtig, dass sie uns auch weiterhin regiert. Sie weiß einfach, was das Beste für China ist.“ Als Politikstudentin kann man sich da kaum zurückhalten.
Trotzdem hat Shanghai mein Herz im Sturm erobert. Die unverhohlene Begeisterung für skurrile Trends und die unermüdliche „Wird schon gut gehen“-Mentalität faszinieren mich. China mag für viele fern und undurchsichtig wirken. Doch wen der Drache einmal geküsst hat, den lässt das Land nicht mehr los.
Text: Lara Schech
Bilder: Lara Schech, bearbeitet von Claudia Wehner
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