Fotograf Johannes, 29, hat von Geburt an nur ein funktionsfähiges Auge. Für SPIESSER hat er sich auf den Weg gemacht und Porträts von der gehörlosen Bloggerin Julia, dem grobmotorischen Maler Kai und dem legasthenischen Buchautor Pascal Jerome geschossen. Alle ihre Geschichten lest ihr hier.
16. October 2012 - 11:35 SPIESSER-Redakteurin Onlineredaktion.
Julia, 30, ist gehörlos und hat den Barrieren in den Köpfen der Menschen den Kampf angesagt – mit allerlei medialer Aufmerksamkeit und einer Kandidatur für den Bundestag.
Bis heute ist es nicht zweifelsfrei klar, weshalb ich als Gehörlose durchs Leben gehe. Vielleicht habe ich die Behinderung von einem Bruder meines Opas geerbt – auch er war gehörlos und er wurde von den Nazis in ein Kinderheim gesteckt, weil er als unlebenswertes Leben galt. In meiner Familie ist außer mir aber sonst niemand gehörlos.
Oder aber – und das ist, was ich selbst glaube – die Ursache liegt darin, dass ich bei meiner Geburt die Nabelschnur um den Hals gewickelt hatte und durch den Sauerstoffmangel etwas blau angelaufen war. Bei allen meinen gehörlosen Freunden, die ebenfalls als einzige in ihrer Familie gehörlos sind, ist genau das Gleiche bei der Geburt passiert.
Aber wie auch immer – ich empfinde mein Leben als Gehörlose wirklich nicht als dramatisch. Es schränkt mich ein, gut. Aber meiner Meinung nach liegt das nicht an der Winzigkeit, nicht hören zu können, sondern vielmehr daran, dass man uns nicht einschließt. Klingt nach einer bequemen Ausrede, aber es ist in 90 Prozent der Fälle, die mir spontan einfallen, einfach zutreffend.
2010 wurde ich als Lippenleserin in den Medien bekannt, da ich die am Bildschirm abgelesenen Aussagen unserer Nationalelf und des Bundestrainers auf dem Spielfeld auf Twitter verbreitet habe. Ein meiner Meinung nach ungemein eleganter Schachzug, um auf die Themen Barrierefreiheit und Inklusion hinzuweisen, also darauf, dass unsere Umwelt noch lange nicht so gestaltet ist, dass Menschen mit Behinderung ohne Probleme an allem teilhaben können, geschweige denn von allen akzeptiert werden. Geplant war es aber nicht.
Im Rückblick auf mein Leben ist mir heute irgendwie klar, dass es so kommen musste, dass ich mich eines Tages für Inklusion einsetzen würde. In der Grundschule habe ich Inklusion erlebt, gehörte dazu, wie jedes andere Kind auch. Mir war also schon früh klar, dass Inklusion gesellschaftsfähig werden kann und Behinderungen so normal, dass keiner mehr darüber redet.
Normal war es nicht, dass ich in die örtliche Grundschule eingeschult wurde. Die Gehörlosenschulen in der Gegend waren einfach zu weit weg und mir außerdem gänzlich unsympathisch. Zum Glück kannte meine Mutter den Direktor der Schule um die Ecke. In meinen Jahren dort wurde in mir die Liebe zur deutschen Sprache in Wort und Schrift gefestigt – der Grundbaustein für mein Blog, in dem ich mich heute mit der fehlenden Barrierefreiheit in Deutschland auseinandersetze.
Wie sollen sich gehörlose und schwerhörige Menschen über das Fernsehen weiterbilden können, wenn die Untertitelquote derzeit bei 14,6 Prozent liegt? Und was ist damit, dass gehörlose und schwerhörige Menschen bis heute in Deutschland nicht flächendeckend die Feuerwehr, den Krankenwagen oder die Polizei im Notfall per SMS erreichen können? Oder mit dem unerträglichen Zustand, dass an Gehörlosenschulen die Gebärdensprache nicht zwingend Unterrichtssprache ist, da es bisher keine Vorschrift gibt, dass Lehrer für Gehörlose Gebärdensprache können müssen?
Ich kläre in meinem Blog also über ganz viele Tatsachen auf, aber ohne soziale Medien hätte ich diese Reichweite nicht erreicht. Vor allem die Sache mit der Fußball-WM auf Twitter hat meine Stimme lauter gemacht und mir den notwendigen Schub gegeben, um einiges zu ändern. In der kommenden Bundesligasaison werde ich sogar hin und wieder für den Fernsehsender Sky den Spielern von den Lippen ablesen.
Irgendwie kam ich mit dem Medieninteresse an mir ganz gut klar, auch wenn ich manchmal etwas frustiert war, dass eher mein Ableseservice im Vordergrund stand und nicht mein Hauptthema. Aber mein Trost ist, dass ich damit den Fuß in die Tür gekriegt habe und einem ziemlich unbequemen Thema eine breite Öffentlichkeit gegeben habe. Trotzdem ist es nicht immer einfach – Deutschland gilt im internationalen Vergleich immer noch als eines der Schlusslichter in Sachen Inklusion und Barrierefreiheit.
Manchmal denke ich, dass das alles gar nichts bringt und es sich entspannter lebt, wenn man sich nicht mit dem Thema beschäftigt. Dann wiederum wählt Twitter mich als einzige Deutsche und erste Gehörlose überhaupt in die Twitter Top Stories des Jahres 2011 und werde als Bloggerin und Bloggermädchen des Jahres 2011 ausgezeichnet. Wie soll man da die Flinte ins Korn werfen?
Ob das eines Tages mein Deutschland sein wird, in dem ich mich nicht mehr wie eine Außerirdische im eigenen Land fühlen werde? Ob je sämtliche Barrieren wegfallen? Ich hoffe es. Meine Motivation ziehe ich daraus, dass es doch Erfolge gibt, die ich als Bloggerin erreicht habe. Zum Beispiel ist der Videopodcast von Angela Merkel jetzt mit Untertiteln versehen, auch EinsFestival sendet nun mit Untertiteln und in diesem Jahr waren beim Tag der offenen Tür der Bundesregierung nach zwei Jahren härtnäckigen Bittens Gebärdensprachdolmetscher anwesend. Und wer weiß? Vielleicht werde ich im September 2013 die erste gehörlose Bundestagsabgeordnete, wenn die Piraten die Fünf-Prozent-Hürde knacken.
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https://youtu.be/dc3EW7fgqk8
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[Bild:1]
Viel Spaß
mxk
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Danke Fuchsteufelswild, es freut mich das dir der Artikel gefällt :)
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