Fotograf Johannes, 29, hat von Geburt an nur ein funktionsfähiges Auge. Für SPIESSER hat er sich auf den Weg gemacht und Porträts von der gehörlosen Bloggerin Julia, dem grobmotorischen Maler Kai und dem legasthenischen Buchautor Pascal Jerome geschossen. Alle ihre Geschichten lest ihr hier.
16. October 2012 - 11:35 SPIESSER-Redakteurin Onlineredaktion.
Heute ist Pascal Jerome, 21, Poetry Slammer und Buchautor. Früher konnte er nicht mal lesen und schreiben.
Buchstaben sind die komischen Zeichen, die mir beim Versuch, sie zu lesen, nur vor den Augen tanzen – so war es zumindest bis zu meinem elften Lebensjahr. Damals wusste ich noch nicht, dass ich eine Wahrnehmungsstörung habe, die das Sehen und Hören betrifft und mich zu einem sogenannten funktionalen Analphabeten gemacht hat. Das Adjektiv „funktional“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass ich zwar in der Lage war, Buchstaben auseinander zu halten und einzelne Wörter oder auch kurze Sätze zu lesen – aber ich konnte Texte bei weitem nicht so mühelos wie die meisten anderen Menschen verstehen.
In der Grundschule war ich schlecht. Ich war das verhasste ADHS-Kind. Ich störte den Unterricht durch lautes Reinrufen, zappelte oder hörte einfach nie zu. Und Vorlesen? Niemals. Deshalb haben die Lehrer meiner Mutter geraten, mich die zweite Klasse wiederholen zu lassen. Trotzdem konnte von einer Verbesserung nicht die Rede sein. Die Lehrer wussten keinen Rat, was sie mit mir, dem verhaltensauffälligen Kind, machen sollten. Deshalb wollten sie mich Ende der vierten Klasse auf eine Sonderschule schicken. Meine Mutter verstand die Welt nicht mehr, da ich schon damals äußerst gerne und viel geredet habe.
Sie beschloss, mit mir zu einem Psychologen zu gehen. Dort musste ich mehrere Intelligenztests machen, bei denen meine Wahrnehmungsstörung entdeckt wurde. Durch sie nehme ich Reize ungewöhnlich intensiv wahr und damals konnte ich sie noch nicht zuordnen und filtern. Die Diagnose war eine Erleichterung, denn jetzt wussten nicht nur meine Familie und meine Lehrer, sondern auch ich, was an mir anders ist. In der festen Überzeugung, ich wäre ein Wunderkind, schickte man mich aufs Gymnasium. Die erste Zeit war toll, ich wurde direkt zum Klassensprecher gewählt. Doch offenbar nahm ich meine Aufgaben zu ernst – meine Mitschüler begannen, mich zu mobben, und nach einem halben Jahr flog ich von der Schule mit einem Notenschnitt von 6,0.
Ich ging deshalb auf die Hauptschule. Hier begann das Mobbing von vorn. Einmal wurde ich sogar von ein paar Mädchen krankenhausreif geprügelt. Und auch meine neuen Lehrer waren mit mir überfordert. Deshalb begann meine Mutter selbst eine Ausbildung zur Lerntrainerin. Gemeinsam mit ihr habe ich Übungen gemacht, die mir helfen sollten, die Reizüberflutung in den Griff zu bekommen. Zum Beispiel habe ich mir über einen Kopfhörer Geräusche angehört und musste dann bestimmen, aus welcher Richtung sie gekommen sind.
Mit elf konnte ich dann auch endlich richtig lesen und schreiben. Natürlich immer noch sehr fehlerhaft und anfangs konnte nur meine Mutter das Geschriebene entziffern. Für andere war es Buchstabensalat. Irgendwann habe ich mich an einer Geschichte versucht – die nach und nach zu einem ganzen Buch wurde. Ein Fantasy-Roman über einen Jungen, der immer nur gehänselt wird, sich dann aber dem Übersinnlichen zuwendet. Als ein Verlag es tatsächlich veröffentlichte, waren meine Lehrer und Mitschüler vollkommen überrascht – immerhin ein kleiner Triumph.
Als ich meinen Schulabschluss hatte, war ich nur froh, diese Zeit endlich hinter mir zu haben. Damals bin ich über den Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung auf Poetry Slam aufmerksam geworden. Ich habe eine Show gesehen und wusste: Das ist, was ich machen will. Meinen ersten Auftritt hatte ich in einem Laden in Münster. Mir ging echt die Düse – aber ich habe Gefallen daran gefunden. Die ersten Monate nach der Schule verbrachte ich deshalb auf Bühnen in ganz Deutschland. So konnte ich meine Leidenschaft für die Wortkunst entdecken. Sie hilft mir, meine Vergangenheit hinter mir zu lassen.
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Ich bin mehrmals aus Fenstern im 7. Stock gesprungen,
woraus ein Musikvideo zu meinem Song LIMITS entstanden ist:
https://youtu.be/dc3EW7fgqk8
Bei meinem letzten Sturz fiel ich in Kunst hinein:
[Bild:1]
Viel Spaß
mxk
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Danke Fuchsteufelswild, es freut mich das dir der Artikel gefällt :)
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