Zwischen Hassans Welt und meiner gibt es keine „Arbeitssprache Englisch“, die eigentlich alle verbindet. Zwischen Hassans und meiner Welt gibt es nur das Mittelmeer. Aber jetzt ist meine Welt irgendwie auch zu Hassans geworden und Hassans Welt ist meine, weshalb ich hier sitze. Hassan ist geflüchtet. Und ich bin eine, die über Flüchtlinge schreibt.
Nicht mal eine Stunde vorher hatte ich aufgeregt in der Tram gesessen. Ich hatte so viele Fragen und gleichzeitig so viel Angst, mit voller Wucht in sämtliche Fettnäpfchen zu springen, von deren Existenz ich naives Ding nichts wusste. Die Tram fuhr mich durch mir gänzlich unbekannte Gegenden ans andere Ende der Stadt und als ich aussteigen musste, war ich überrascht, dass es nicht die Endstation war. Wie immer ein bisschen spät dran, fand ich endlich die Rezeption des Kunstzentrums, in dem Hassan untergekommen war.
Und dann sitze ich in Hassan und Aishas Wohnzimmer
Es ist ein großes Wohnzimmer, größer jedenfalls, als nötig gewesen wäre für die wenigen Möbel, die darin stehen. Es sieht aus wie das Wohnzimmer von jemandem, der bald wieder auszieht, zusammengewürfelt und leer. In einer Ecke stehen zwei Stühle; einer für mich und einer für die Übersetzerin.
Hassan spricht Deutsch, ein bisschen jedenfalls. Er nennt mir seinen Namen und den seiner Frau, aber er spricht die Namen Arabisch aus und ich verstehe sie nicht. Wenn ich „Hassan“ sage, klingt es anders. Kein deutsches Hassan, kein deutsches Aisha. Aber er ist geduldig und buchstabiert mir seinen Namen, auf Deutsch übrigens. Bei den Nachnamen gebe ich aber endgültig auf und lasse sie die Übersetzerin mit krakeligen Buchstaben in mein Notizheft schreiben.
Fängt ja gut an mit der Völkerverständigung
Langsam kommen wir ins Gespräch. Als erstes hat Aisha begonnen zu sprechen und mir ihren Morgen in Syrien beschrieben. Aisha redet nicht so wasserfallartig wie Hassan, aber deshalb nicht weniger. Vor allem aber hat sie das herzlichste Lachen, das ich seit Langem gehört habe: Sie wirft ihren Kopf nach hinten und ihre großen freundlichen Augen strahlen. Ich möchte sie als Freundin haben. Den einjährigen Ibrahim hat sie in Bulgarien auf der Flucht bekommen, die zweieinhalbjährige Lavin kurz zuvor.
Ich versuche mir vorzustellen, wie es ist, Kinder zu haben, die ihre Großeltern noch nie gesehen haben. Oder wie es ist, hochschwanger auf der Flucht zu sein. Oder mit einem Baby im Arm UND hochschwanger zehn Tage durch einen Wald zwischen der Türkei und Bulgarien zu stapfen, nur um Grenzkontrollen zu umgehen, sich zu verlaufen, verloren zu sein in einem fremden Land. Ihre Schwester, sagt Aisha, wäre bei der Flucht mit von der Partie gewesen, aber als sie vorm Wald standen, sei sie schreiend und weinend zurück gerannt. Derweil finden Lavin und Ibrahim mich und meinen Kuli ganz schön spannend. Immer wieder kommt der kleine Ibrahim an meine Knie gestolpert und schaut mich von unten neugierig mit seinen großen braunen Augen an. Wenn ich lächele, lächelt er zurück. Ich merke, dass Sprachbarrieren nicht immer gelten. Nur zu gern würde ich Arabisch beherrschen.
Nachdem wir eine Weile gesprochen haben, bietet Aisha mir etwas zu trinken an und fragt, ob ich syrischen Kaffee probieren möchte. Mein erster Reflex ist Nein – wo ich doch viel zu höflich bin, um anderen zur Last zu fallen, und dazu noch Kaffee nicht mag – aber dann fällt mir ein, dass ein Nein in vielen Kulturen als unhöflich gilt. Und dass ich eigentlich ziemlich neugierig darauf bin, wie syrischer Kaffee so schmeckt. Also bitte ich um eine Tasse und Aisha verschwindet in die Küche. Während sie den Kaffee macht, redet Hassan über Syrien. Es sind alle nachts bis um zwölf wach und auf der Straße, sagt er, von den Kindern bis zu den Alten. Alle reden und essen und tauschen sich über den Tag aus und es ist viel mehr Leben in der Stadt als hier. Zum ersten Mal sehe ich seine Augen leuchten.
Bei fremden Freunden zu Besuch
Als Aisha uns den Kaffee in kleinen Espressotassen serviert und wir die dampfende schwarze Flüssigkeit in kleinen Schlucken trinken, ist er eine ganze Weile still und starrt nachdenklich in die Luft.
Ich koste und bin begeistert. Es ist, als wäre ich bei fremden Freunden zu Besuch. Ein sehr langer Besuch übrigens – das Interview dauert mittlerweile fast drei Stunden. Wir sind so gut wie fertig, aber ich will nicht gehen, will mehr fragen, reden, mehr erfahren über diese Leute, die mir doch nicht so anders erscheinen. Und auf einmal höre ich mich sagen: „Hassan hat doch vorhin gemeint, er fahre oft mit dem Fahrrad zu dem kurdischen Café. Ich habe zwei Fahrräder. Möchtest du eins davon haben, Aisha?“ Meine Worte werden übersetzt, dann herrscht kurz Schweigen im Raum. Langsam antwortet Aisha, zögernd, ausweichend. Sie müsse ja daheim bleiben wegen dem kleinen Ibrahim, der noch nicht in den Kindergarten geht. Außerdem könne sie gar nicht Fahrrad fahren.
Seit Monaten strömen Flüchtlinge aus den Balkanstaaten, Syrien oder Afrika nach Deutschland und hoffen hier auf ein besseres Leben. So unterschiedlich die Meinung über die Aufnahme dieser Flüchtlinge in Deutschland ist, so vielfältig sind die Projekte, mit denen bundesweit versucht wird, diesen Menschen zu helfen. Oft seid ihr es, die jungen Leute, die sich engagieren. Deshalb widmen wir euch eine eigene Seite, in der wir nicht nur euer Engagement mit der Welt teilen wollen. Wir möchten auch allen anderen zeigen, wie einfach es ist, Flüchtlingen zu helfen, deutschlandweit: Ihr für Flüchtlinge!
Dann meldet sich Hassan zu Wort. In Syrien sei es nicht üblich, dass Frauen Rad fahren. Aber er wolle, dass seine Frau und er sich an die Lebensweise hier anpassen. Und der Gedanke, dass sie Ausflüge machen könnten, gefalle ihm. Sie schaut mich an und sagt mich lächelnden Augen, dass sie gern Radfahren lernen würde. Abgemacht.
Eine Viertelstunde später habe ich die Nummer der Dolmetscherin und sitze in der Bahn. Ich denke über die Fahrrad-Sache nach. Wie soll man jemandem das Radfahren beibringen, wenn man selbst mindertalentiert ist? Und dann denke ich, dass es vielleicht auch nicht die beste Idee der Welt ist, das Rad, das mir mein Opa geliehen hat, weiter zu verschenken. Das andere möchte ich nicht hergeben. Ich werde also ein gebrauchtes Rad kaufen. Aber dann fällt mir auf einmal ein, dass Hassan, Aisha und ihre Kinder ja abgeschoben werden sollen. Sie haben einen bulgarischen Stempel in ihrem Pass. Den Stempel des „sicheren Drittlandes“, in dem der asthmakranke Ibrahim keine Medikamente bekommen hat. In dem sie in ihrem Essen im Flüchtlingscamp Insekten fanden. In dem sie trotz Pegida immer noch weniger willkommen sind als hier.
Lernt sie doch einfach mal kennen, die Ausländer
Auf einmal fühlt es sich falsch an, einfach in meine Wohnung zu fahren, die ich behalten darf, solange ich will, in diesem Land, in dem meine Familie wohnt und in dem ich bleiben kann, solange ich will. Was nützt es, ein Fahrrad zu spenden, wenn kleine Ibrahims im Mittelmeer ertrinken? Der Mann, der mir gegenüber saß, erinnerte mich an meinen Papa und auf einmal fühle ich mich wieder wie zwölf und will nur noch meine Eltern anrufen und ihnen alles erzählen. Ich habe das Gefühl, eine wichtige Botschaft mitteilen zu müssen. Aber welche? Nein, sie haben kein Englisch gesprochen. Ja, sie waren sehr sympathisch.
Vielleicht ist es diese. Sie geht nicht nur an Politikwissenschaftsstudenten wie mich, sondern auch an Tante Birgit, die jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit an einem Asylbewerberheim vorbeifährt, und Opa Frieder, der sich gern mal bei Familienfeiern über die ganzen Ausländer aufregt.
Lernt sie doch einfach mal kennen, die Ausländer. Am besten geht das mit offenen Augen, Ohren und Herzen. Und wenn ihr zufällig ein funktionierendes Jugend- oder Damenfahrrad loswerden wollt, meldet euch bei mir. Ich suche eins.
Dieser Text ist bereits erschienen auf meinem Blog whothefckisalice.wordpress.com - schaut gern auch da vorbei!
Text+Foto: Alisa Sonntag