Seit ich in Dresden wohne, fahre ich regelmäßig nach Berlin, um meine Eltern zu besuchen. Meistens nehme ich den Zug und ehrlicherweise buche ich nie mehr als zwei Tage im Voraus. Dank modernster Technik und DB-App ist das ja auch super einfach. Ob mein Bahnsteig einen Fahrstuhl hat? Keine Ahnung. Ich weiß meist erst, wenn ich am Bahnhof ankomme, zu welchem Gleis ich überhaupt muss. Doch ich frage mich, wie das eigentlich ist, wenn selbst eine S-Bahn-Fahrt mit unglaublicher Planung verbunden ist.
Die Hindernisse liegen meist Außen
So wie für Djamal zum Beispiel. Djamal sitzt im Rollstuhl. Doch nicht der Rollstuhl ist seine Barriere: Die Hürden werden ihm überall von seiner Umwelt entgegengestellt. Bevor Djamal eine Zugreise antritt, schaut er zuerst, ob der angesteuerte Bahnhof überhaupt über einen Fahrstuhl verfügt. Aber das ist nicht der einzige Mehraufwand bei der Planung. „Da ich Unterstützung beim Einsteigen und umsteigen brauche, vereinbare ich vorher, dass mir ein Mitarbeiter der DB hilft.“ Wer jetzt denkt, dass sich das bequem per App regeln lässt, liegt falsch. Denn sogenannte Mobilitätsservices bucht man am besten persönlich via Telefon (oder E-Mail bzw. Fax). Es gibt zwar auch ein Onlineformular, aber als ich das während meiner Recherche aufrufen möchte, erscheint bei mir nur eine 404-Fehlerseite.
Besonders frustrierend für Djamal wird es dann, wenn die eingerichteten barrierefreien Strukturen überhaupt nicht funktionieren. „Wir haben es schon so oft erlebt, dass der DB-Mitarbeiter nicht kam oder ein Fahrstuhl kaputt war und wir so den Anschlusszug verpasst haben“, erzählt mir Fridtjof. „Es frustriet mich, weil ich durchaus ein selbstbestimmtes Leben führen kann, aber die Voraussetzungen sind oft nicht vorhanden“, fügt Djamal noch hinzu.
Fridtjof und Djamal kennen sich bereits seit der 4. Klasse. Später verbrachten sie gemeinsame Urlaube und obwohl beide nicht mehr in derselben Stadt wohnen, sind sie bis heute gut befreundet. Djamal erzählt mir, dass er Produktdesign in Potsdam studiert. Nebenbei engagierte er sich zwei Jahre im Beirat für Menschen mit Behinderung der Landeshauptstadt Potsdam und einer Gruppe, die Schwarze Studierende unterstützt. Der Beirat ist ein beratendes Gremium, in den behinderte und nicht behinderte Menschen berufen werden. Auf den ersten Blick erscheint mir diese Initiative sehr sinnvoll und hilfreich. Doch Djamal erklärt mir, dass es sich dabei eher um einen Alibi-Beirat handele. Sie hätten kein Stimmrecht, zudem würden die Mitglieder ausschließlich ehrenamtlich arbeiten. In den Bereichen Stadtpolitik und -verwaltung, in denen der Beirat tätig ist, ist es schwierig, mit einem Ehrenamt etwas zu bewirken. Die Wichtigkeit der Aufgabe erfordert aber eine gute finanzielle und personelle Ausstattung und eine Einbindung in die Entscheidungsprozesse. Aufgrund mangelnder Kapazitäten und zielbringender Ergebnisse entschloss sich Djamal irgendwann dazu, aus dem Beirat auszutreten. „Außerdem habe ich irgendwann gemerkt, dass sich meine aktivistische Tätigkeit auch gut in meinem Studium verwirklichen lässt. Fast alle Produkte, die wir im Studium entwerfen, sind auf Menschen ohne Behinderungen ausgerichtet. Also habe ich mich gefragt: welche Funktion erfüllt dieses Möbelstück überhaupt für mich?“
Assistenten begleiten im Haushalt, aber auch in der Schule, bei der Arbeit oder Freizeit-Aktivitäten.
Das Ergebnis: Djamal entwarf ein Möbelstück, das für alle Menschen einen Mehrwert bieten kann. Das Modell besteht aus einer Halterung, die an der Wand montiert ist. Darin liegen zwei unterschiedlich große Polster, die sich herausnehmen lassen. So kann er sich als Rollstuhlfahrer anlehnen, aber Gäste können sich trotzdem auf die Polster setzen. „Bei diesem Projekt ging es mir darum zu zeigen, dass auch nichtbehinderte Menschen die Erfahrung der Anpassung machen und eigene Nutzungsmöglichkeiten entwickeln können. So könnte mein Möbelstück auch im Kontext von kleinen WG-Zimmern gut funktionieren.“
Ich frage Djamal, wo er wohnt. Er ist letztes Jahr von seinem Elternhaus in eine WG gezogen. „Durch meine Krankheit, spinale Muskelatrophie Typ 2, brauche ich rund um die Uhr Unterstützung. Zwar kann ich mich je nach Tagesform in Innenräumen durch meinen Rollstuhl selbstständig bewegen, aber um ein Fenster zu öffnen oder Essen zu machen, brauche ich eine Assistenz.“ Eine solche persönliche Assistenz ist eine Person, die Menschen mit Behinderung wie Djamal in ihrem Alltag unterstützt. Assistenten begleiten im Haushalt, aber auch bei der Arbeit, in der Schule oder bei Freizeit-Aktivitäten. Dadurch wird behinderten Menschen das Führen eines selbstbestimmten Lebens ermöglicht. In den meisten Fällen werden die Kosten für einen Assistenten vom Arbeits- oder Sozialamt übernommen.
In seiner Schulzeit begleitete ihn jeden Tag jemand zur Schule, seine Eltern unterstützten ihn zu Hause. Doch wie andere junge Menschen auch wollte Djamal eines Tages nicht mehr bei seinen Eltern leben. Sein Auszug gestaltete sich allerdings nicht so einfach. „Nachdem ich in meine WG gezogen bin, stellte ich den Antrag an das Amt. Ich hatte die Hoffnung, dass der Antrag so schneller bewilligt wird. Stattdessen habe ich fast ein Jahr ganz ohne Basic-Hilfe gelebt.“ Obwohl Menschen mit Behinderung nach dem Bundesteilhabegesetz ein Recht auf Assistenz haben, wenn sie ohne fremde Hilfe nicht am Leben der Gesellschaft und am Berufs- und Familienleben teilhaben können, mussten Djamals Freunde und Mitbewohner einspringen, damit er ausreichend Hilfe bekommt. „Ich habe tolle Freunde, die mich Tag und Nacht unterstützt haben, aber manchmal braucht man eben doch einen Abend alleine für sich. Bei einer professionellen Assistenz fällt es mir einfach das auszusprechen, einen Freund will ich aber ungern vor den Kopf stoßen“, erinnert er sich.
Betroffene werden nicht als gleichberechtigt wahrgenommen.
Nicht nur die Bearbeitung der Anträge frisst unglaublich viel Zeit, auch die Erstellung ist mit viel Mühe und Zeitaufwand verbunden. „Für die meisten Tätigkeiten brauche ich schon durch meine Behinderung länger und dann wird noch ein großer Berg an zeitraubenden Aufgaben obendrauf geladen. Der zusätzliche Zeitaufwand ist eine unglaubliche Hürde in meinem Alltag“, erklärt er. Mir wird durch unser Gespräch bewusst, dass viele Menschen nicht nur durch ihre Behinderung auf Hürden treffen. Die meisten Hindernisse ergeben sich durch die Strukturen, die sie umgeben. „Natürlich hätte ich auch bei meinen Eltern wohnen bleiben können, aber ich finde nicht, dass ich von meiner Behinderung abhängig machen muss, wo ich wohne. Ich möchte das wie jeder andere junge Mensch selbst entscheiden.“ Neben dem erhöhten Zeitaufwand kommen meist auch mehr Kosten auf Djamal zu. Damit er beispielsweise am Straßenverkehr teilnehmen kann, braucht er ein spezielles Auto, das er mit seiner Beeinträchtigung bedienen kann. Dafür müsste er schon beim Führerschein einen gewissen Aufpreis zahlen. Das ärgert ihn. „Es geht mir gar nicht darum, den Führerschein erstattet zu bekommen. Ich möchte einfach nur den gleichen Preis wie alle zahlen“, rechtfertigt sich Djamal.
Diskriminierung ist in unseren Strukturen tief verankert
Mir wird bewusst, wie tief verankert Diskriminierung in unseren Strukturen ist. Für die Benachteiligung von behinderten Menschen finde ich bei meiner Recherche einen Begriff: Ableismus. Er ist vom englischen Wort ableism abgeleitet. Damit gemeint ist die Reduktion eines Menschen auf die Merkmale, in denen er sich vom vermeintlichen "Normalzustand" unterscheidet. Dies äußert sich in Abwertung oder Aufwertung seiner Beeinträchtigung. Betroffene werden nicht als gleichberechtigt wahrgenommen. Ein Beispiel für abwertenden Ableismus wäre, wenn ein Busfahrer auf einen Rollstuhlfahrer genervt reagiert, weil er im vollen Feierabendverkehr im Bus mitgenommen werden möchte. Wenn der Rollstuhlfahrer dann erwidert, dass er zu keiner anderen Zeit fahren kann, da er von der Arbeit nach Hause fährt und die Ablehnung des Busfahrers in Bewunderung für die Ausübung eines Berufes umschlägt, spricht man dagegen von aufwertendem Ableismus.
Diese Diskriminierung findet man auch in der Forschung zum Themenfeld Behinderung. Selten werden tatsächlich Betroffene in die Erstellung des Forschungsdesigns oder in die Befragung einbezogen. Der Erkenntnisgewinn bleibt dementsprechend oft gering. Meist werden bevormundende Handlungsempfehlungen gegeben oder Produkte entwickelt, die für Betroffene völlig nutzlos sind. Als ich davon lese, erinnert mich das an diverse Artikel, die extra entwickelt werden, damit ich als Frau meine Menstruationsprodukte möglichst diskret entsorgen kann. Damit sie niemand sehen, anfassen oder riechen muss – ein Problem, das für mich gar keines ist. Viel lieber wäre mir eine Enttabuisierung des Themas.
Durch Förderschulen gehen Kontaktmöglichkeiten verloren.
Die Weichen für eine inklusive Gesellschaft werden in der Schule gestellt
Ich frage mich, wie man diese Diskriminierung auflösen kann und komme zu dem Ergebnis, dass der Grundstein für Inklusion in unserem Schulsystem liegt. Fridtjof selbst arbeitete nach seiner Schulzeit als Assistenz für behinderte Kinder. Auf meine Frage, ob er dieses System als positiv empfunden hat, antwortet er: „Bei der Inklusion geht es nicht nur um die Einbeziehung von Menschen mit Behinderung. Unser Schulsystem in Deutschland ist generell nicht auf jeden zugeschnitten. Viele Kinder zeigen Auffälligkeiten, weil sie Schwierigkeiten haben, sich anzupassen. Wer sich gut einfügt und in das System passt, hat Glück und somit Vorteile. Der Rest hat Pech.“ Die Frage steht im Raum, was Schule überhaupt ausmacht. Geht es bei der Schule nur darum, am Ende einen Abschluss in der Tasche zu haben? Oder ist es nicht viel mehr Aufgabe der Schule, Werte wie Toleranz, Solidarität und Respekt zu vermitteln? Ist die Schule ein Ort der reinen Wissensvermittlung oder sollte er vor allem Möglichkeiten für Kinder bieten, Kontakte zu knüpfen? Meine Antwort: Beides ist wichtig. Die Schule vermittelt Lernstoff, mit dem man zu Hause normalerweise nicht in Kontakt kommt und erweitert so den Horizont. Aber wenn ich an meine eigene Schulzeit zurück denke, habe ich besonders die guten Freundschaften in Erinnerung, die ich durch die Schule geschlossen habe. Auch Fridtjof unterstützt meine Theorie: „Während meiner Arbeit als Assistenz habe ich gemerkt, dass jeder in den Klassenverbund aufgenommen wurde. Zuerst hatten einige Berührungsängste durch den Rollstuhl, die haben sich aber sehr schnell in Interesse umgewandelt. Auch bei geistigen Behinderungen habe ich diese Erfahrung gemacht. Diese Kontaktmöglichkeiten gehen durch separate Förderschulen verloren, was wiederum Vorurteile und Berührungsängste fördert.“
Ein System, das allen Schülern die Möglichkeit gibt teilzuhaben, klingt für mich nach einer wunderbaren Utopie. Etwas zweifle ich aber an der Umsetzbarkeit, denn schließlich musste man in der Schule einen Berg an bestimmten Aufgaben und Anforderungen erfüllen. „Inklusion heißt nicht, dass alle immer das gleiche machen müssen“, erklärt mir Djamal meinen Denkfehler. „In meiner Schulzeit bin ich in der Zeit, in der alle Sportunterricht hatten, zum Schwimmen gegangen.“
Djamal erzählt mir, dass die ehemalige Grundschule von ihm und Fritjof mittlerweile inklusiv ist. „Meiner Meinung nach ging diese Umstellung viel zu schnell und die Eltern und Lehrer wurden ganz schön überrumpelt. Ich würde mich immer für Inklusion aussprechen, aber es ist wichtig, dass man die Einführung ausreichend vorbereitet, sonst kann sie nicht gelingen.“
Behinderte Menschen haben schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt.
Früher wurden Menschen mit Behinderung vorwiegend an speziellen Förderschulen unterrichtet. Aber das System steht in der Kritik, denn die Abgänger haben meist Schwierigkeiten, einen Ausbildungsplatz zu bekommen, oder sie landen auf dem sekundären Arbeitsmarkt. Dazu zählen beispielsweise Behindertenwerkstätten. Laut einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) haben etwa 23 Prozent der ehemaligen Förderschülerinnen und -schüler sechs Jahre nach dem Besuch der 9. Klasse noch keine Ausbildung gefunden. Dagegen waren es bei den Jugendlichen, die maximal einen Hauptschulabschluss auf einer Regelschule erlangt haben, nur 13 Prozent. Auch allgemein haben Menschen mit Behinderungen schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Das Statistische Bundesamt stellte 2021 fest, dass knapp 57 Prozent der behinderten Menschen zwischen 15 und 64 Jahren berufstätig waren oder nach einer Tätigkeit suchten. Zum Vergleich: Die Erwerbsquote nicht behinderter Menschen in dieser Altersgruppe betrug knapp 82 Prozent.
Zum Schluss unseres Gesprächs möchte ich von Fridtjof noch einmal wissen, ob er den Beruf als Assistent weiterempfehlen kann. „Es ist ein unglaublich erfüllender Beruf, den ich absolut empfehlen kann. Für einen Job neben dem Studium ist die Bezahlung auch ziemlich gut.“ Doch welche Voraussetzungen braucht man, wenn man sich für diesen Beruf entscheidet? Eine spezielle Berufsausbildung gibt es nicht. Medizinische und pflegerische Kenntnisse sind zwar nützlich, aber nicht immer notwendig. „Wichtig ist, dass man keine allzu großen Berührungsängste hat. Falls zu Anfang Bedenken da sind, kann ich aber beruhigen, die lösen sich ziemlich schnell auf“, erklärt mir Fridtjof. Und Djamal fügt hinzu: „Als Betroffener ist mir außerdem wichtig, dass die Person nicht bevormundend ist. Da man sehr eng zusammenarbeitet, sollte die Person sensibel sein.“
Das Gespräch mit Djamal und Fridtjof hat mir noch einmal deutlich gemacht, wie viele Bereiche unserer Gesellschaft nicht inklusiv sind. Was mir nicht klar war: Oft sind nicht die fehlenden Strukturen das Problem, sondern viel mehr, dass diese nicht funktionieren. Damit eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft möglich ist, so wie es im Grundgesetz festgeschrieben ist, braucht es mehr Wille der Gesellschaft, funktionale Strukturen zu schaffen.
Text von Katharina Ziegler, möchte mehr Bewusstsein für gesellschaftliche Tabuthemen schaffen.