Brief an …

Brief an... den Film

SPIESSER-Autoren schreiben Briefe. Dieses Mal meldet sich Alexander bei der wichtigsten künstlerischen Neuentdeckung des 20. Jahrhunderts.

31. December 2011 - 12:33
SPIESSER-Autor AlexVirtuell.
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AlexVirtuell Offline
Beigetreten: 20.11.2011

Sehr geehrter Film,

du lässt für mich Träume fernab von unserer Realität entstehen, inspirierst, lässt mich die eigenen Sorgen vergessen. Ich gelange durch dich in Welten, die ich vorher nicht kannte, lerne Personen und ihre Schicksäle kennen, die ich liebe und hasse.

Dabei bleibst du immer mit dir selbst allein. Ich kann nur schauen und nichts verändern.

Du bist ein sozial akzeptiertes Fernrohr. Lässt mich andere voyeuristisch bei ihrem Leben und ihrem Leid, sogar bei ihren intimsten Angelegenheiten ganz entspannt aus rot gepolsterten Sitzen beobachten. Und dabei fühle ich mich keine Sekunde wie ein gewissensloser Stalker, denn neben mir sitzen genauso vernünftige Menschen wie ich.

Dabei bist du vielfältig, hast multiple Gestalten. Erzählst große Geschichten von Liebe, Gewalt, Intrigen, Humor, Tod und Glück, Sehnsucht. Doch immer mischst du Bild und Ton, Sehen und Hören zusammen und kommst unserer Wirklichkeit näher als jedes Buch, jedes Theaterstück. Du bist sogar besser, denn du kannst Tage, Monate und Wochen hochdramatischer Ereignisse in wenige Stunden komprimieren.

Früher sah man dich nur in großen Sälen, wo Menschenmengen zusammenkommen, um dich gemeinsam auf einer großen Wand anzustarren, gemeinsam zu lachen, zu weinen und zu fürchten.

Heute haben dich einige Menschen überall auf kleinen Bildschirmen und in transportablen Kopfhörern dabei. Bist du nicht sauer, dass du so alltäglich und praktisch geworden bist und dadurch an Bedeutung und Besonderheit einbüßt?

Zudem bist du so wahnsinnig unkommunikativ. Wie oft saß ich neben jemandem, den ich wirklich mochte und konnte wegen deinen störenden Fesseln nicht mehr als ein paar triviale Worte austauschen und geplatzte, gesüßte Maiskörner dabei mampfen. Dabei kannst du auch retten. Wenn man nicht weiß, worüber man mit seiner Begleitung reden soll, stapft man geraden Schrittes in deine Welt hinein und schweigt sich gegenseitig an.

Zu wenig wirst du als Vermittler von kritischen Themen genutzt. Zu wenig wird mit deinem Potenzial noch experimentiert. Zu wenig schaffst du es, von deinen eigenen Fesseln und Konventionen wegzukommen, wirst zu einer Klonfabrik. Wer ist daran schuld? An erster Stelle deine Zuschauer. Wenn sie dir Geld in dein Maul werfen, wirst du größer und größer. Deine intellektuellen, kulturellen, experimentellen, unkonventionellen Werte werden über den Haufen geschmissen, wenn du das große Geld versprichst. So versinken gelungene Filme mit Tiefe und Spannung in leeren Kinos, während der gehirnlose und zentralisierte Unterhaltungsfilm immer mehr die Bilder der Avantgarde verjagt. Nicht ohne Grund ist Hollywood unter anspruchsvollen Filmprofis schon seit einiger Zeit zu einem Schimpfwort geworden. Ich glaube wir sind uns einig, dass nicht nur das Geld dich regieren sollte.

Trotzdem kenn ich keine Person, die nichts mit dir anfangen kann. Die Begeisterung für dich hält an, denn du bietest jedem ein Abenteuer. Mit deinen unzähligen Geschwistern, die sich in Qualität, Thema, Produzenten, Kultur, Genre, Figuren, Schauspielern und Regisseuren unterscheiden, faszinierst du mich. Du bist meiner Meinung nach eine der meistbedeutenden humanistischen Erfindungen der Moderne. Jeder der dich sieht, wird etwas anderes in dir sehen. Doch bei dem Versuch, deine Essenz in Worte zu fassen, wird er Schwierigkeiten haben. Man muss dich gesehen haben, denn letztlich wird keiner, nicht einmal der beste Filmkritiker, absolut über deine Einzigartigkeit sprechen können. Und trotz einiger Nörgeleien ist dieser Brief auch ein Liebesbrief. Ich gestehe es nun offiziell.

Film, ich liebe dich.

Dein Freund Alexander

 

Fotos: Alexander Kauschanski, Friedrich Knabbe / Jugendfotos.de

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Kommentare

Vier Kommentare
  • Es ist halt unangenehm Kritik mit so einem negativen Beiklang zu lesen. Und blöde ist - finde ich - keine angemessene Begründung.
    "Beim Besten Willen..."

  • Und einfach sagen: "Dein Kommentar war blöde!" :)

  • Vielen Dank, dass du dir die Zeit nimmst eine Kritik für meinen "Brief an den Film" zu schreiben.

    Zuerst einmal stimme ich dir zu, dass Filme die Kreativität und das selbstinitiierte Denken nicht so stark inspirieren wie Bücher. Die Bilder sind auf der Leinwand schon produziert und projezeirt und müssen von dem Zuschaer nur noch erkannt, verarbeitet und in einen größeren Kontext eingeordnet werden.

    Das sage ich mit meinem Text aber auch nicht aus. Ich behaupte Filme können Träume enstehen lassen, die die Psyche so stark beschäftigen, dass sie die eigene Realität zum Teil verdrängen. Diese Fähigkeit haben Bücher auch. Beides sind narrative Medien. Der Sinn meines Textes war aber über das Phänomen Film und nicht über den Vergleich von Film und Buch und anderen Medien zu schreiben.

    Deshalb finde ich dein Kommentar wenig hilfreich und ein wenig irrelevant.

  • ...das:
    "Sehr geehrter Film,
    du lässt für mich Träume fernab von unserer Realität entstehen, inspirierst, lässt mich die eigenen Sorgen vergessen."

    passt besser zum Buch.
    Filme inspierieren die eigene Kreativität nicht, da man alle Bilder bereits vor sich hat, und man sich die Geswichter und die Gegend nicht mehr vorstellen kann/muss.

    Darum ist der Film weniger unterhaltsam als ein gutes Buch, bloß kurzweiliger.

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