Technik & Zukunft

Zwischen Steinzeit und Smombie

Strebt ihr mit dem Beginn eines neuen Jahres auch immer wieder ein besseres, produktiveres und athletischeres Ich an? Ich, SPIESSER-Autor Philipp, habe mir einige Hilfsmittel der schönen neuen Technikwelt angeschafft, alle meine Daten auf dem Weg zur Perfektion des Selbst preisgegeben und festgestellt, wie schön das Leben ohne ständige Selbstüberwachung und Kontrollsucht ist.

23. February 2018 - 15:29
SPIESSER-Autor Philipp Frohn.
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Philipp Frohn Offline
Beigetreten: 27.02.2013

Die Errungenschaften der digitalen Revolution kommen für gewöhnlich erst bei mir an, wenn sie für die meisten schon längst zum Alltag gehören. Ein Smartphone besitze ich erst seit einigen Jahren, Netflix erschlägt mich ebenfalls erst seit fünf Monaten mit seinem gigantischen Angebot und Snapchat bezeichnete ich bis vor kurzem lediglich als „diese App mit dem Geist“. Dass ausgerechnet ich, der technisch unterbelichtete Steinzeitmensch, es sich zum Ziel gemacht hatte, ein Sammelsurium an digitalen Spielerein auszuprobieren und seinen Alltag auf Herz und Nieren abchecken zu lassen, stieß in meinem Freundeskreis natürlich auf hämisches Gelächter.

Als ich zum Datensatzwurde

Um die Überforderung der totalen Selbstkontrolle auf die Spitze zu treiben, starte ich sämtliche Apps gleichzeitig. Einmal das volle Programm, bitte! Dass ich mich ausgerechnet zum Jahreswechsel entscheide, sämtliche Aktivitäten aufzuzeichnen, sorgt für Erstaunen. Zwischen 3.500 und 3.800 Kalorien verdrücke ich täglich, sagt mir Samsung Health. Mich wundert, wie viele Kalorien manche Lebensmittel haben: ein Baguette hat stolze 800 Kalorien – für manche beinahe der halbe tägliche Kalorienbedarf. Da ich ein sportlicher Mensch mit gutem Stoffwechsel bin, bleiben die Kalorien zum Glück nicht an mir haften. Der Versuch, trotzdem 1.000 Kalorien weniger zu mir zu nehmen, scheitert kläglich. Nur an wenigen Tagen schaffe ich das Limit. Sogar das abendliche Glas Milch versprüht den Geschmack schlechten Gewissens.

Viel schlimmer ist jedoch die selbstauferlegte Dauerkontrolle. Jede Mahlzeit, jeder Schluck Wasser und jede Tasse Kaffee warten darauf, akribisch ins Protokoll auf dem Weg ins Körperheil übernommen zu werden. Habt ihr schon mal versucht, einzuschätzen, wie schwer eine Paprika ist? Ich schon, denn der Vollständigkeit und dem guten Gewissen halber teile ich der App alles mit, was ich zu mir nehme. Das permanente Handygedaddel am Esstisch hat zumindest etwas Gutes: Jetzt weiß ich, dass vier fleischfreie Tage 7,8 Kilogramm CO2 einsparen, 38,5 m² Wald und 835 Gramm Tier retten. Doch mal im Ernst: Weder ich, noch viele andere benötigen einen digitalen Moralanstupser, der sagt, dass man weniger Fleisch essen sollte. Der in Deutschland durchschnittliche Fleischkonsum von 60 Kilogramm jährlich und die Massentierhaltung sollten Argument genug sein, seine Essgewohnheiten zu reflektieren.

Ihr seid einsam?Euch ist langweilig? Ihr führt gerne
Selbstgespräche? Super! Cortana, Alexa, Siri heißen die
toughen Damen in euren Smartphones und reden mit euch, wenn sonst niemand möchte. Schluss mit „Na, wie geht’s?“ – wir haben ein paar originelle Icebreaker für euer digitales Date gesammelt.

SIRI, WAS IST NULL GETEILT DURCH NULL?
Stell dir vor, du hast null Kekse und verteilst sie gleichmäßig auf null Freunde. Wie viele Kekse bekommt jeder? Siehst du? Das macht keinen Sinn! Und das Krümelmonster ist traurig, weil es keine Kekse mehr gibt und du bist traurig, weil du keine Freunde hast.

ALEXA, BEAM MICH HOCH!
Ay Captain! Mit Warp-Geschwindigkeit, Captain? Der Antrieb hält das niemals aus!

CORTANA, BIST DU BESSER ALS SIRI?
Eigentlich mag ich keine Prahlerei, aber in 500 Jahren werde ich die Erde retten.

ALEXA, SELBSTZERSTÖRUNG!
Selbstzerstörung in 10, 9, 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1, bum! Hmm. Das ist nicht nach Plan verlaufen.

ALEXA, SELBSTZERSTÖRUNG!
Selbstzerstörung in 10, 9, 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1, bum! Hmm. Das ist nicht nach Plan verlaufen.

CORTANA, LIEBST DU MICH?
Ich brauche noch einige Updates, um diese Frage von ganzem Herzen beantworten zu können.

Da ich ohnehin mehrmals die Woche ins Fitnessstudio gehe, muss ich zumindest diesen Vorsatz nicht gebetsmühlenartig hervorheben. Sport ist mein Hobby und macht mir Spaß – und doch schafft es der Kontrollwahn, meinen Ausgleich in Stress umzuwandeln. Denn jede Übung und jeder Trainingssatz will via App gestartet und gestoppt werden, um jede Verbesserung und vor allem jede Verschlechterung zu dokumentieren und subjektiven Druck auszulösen. Unglaublich, wie ich das Training genieße, als mein Handyakku dank der stromsaugenden Apps den Geist aufgibt.

Google Home: Ein besserer MP3-Player

Auch in den vier Wänden muss alles der heiligen Effizienz dienen. Wozu soll ich denn bitteschön den weiten Weg zum Terminkalender laufen, wenn ich einfach den Home Assistent Google Home fragen kann? Schnell bin ich ernüchtert: Im Prinzip ist das Audio-Gerät ein etwas besserer MP3-Player. Natürlich nur, wenn man ein Abo eines Musik-Streaming-Dienstes hat. Am Anfang halluziniere ich noch eine Faszination herbei, als ich mir Songs von den Rolling Stones wünsche und Google diese tatsächlich ohne Knopfdruck durch die Wohnung schallen lässt. Die anfängliche Euphorie ist aber schnell verfolgen. Google Home kommt mir vor wie eine nur zeitweilig witzige Belustigung, die mir neben dem Musik-Programm aktuelle Nachrichten abspielen, das Wetter durchsagen, kurze Wikipedia-Definitionen vorlesen und Hundegeräusche imitieren kann. Die Kalender-App streikt und ein einfacher Fahrplan mit dem ÖPNV scheint den Kompetenzbereich des Assistentens ebenfalls zu überschreiten. Gut, dass Google Home nicht nachtragend ist. Unzählbar wie oft ich es beleidigt oder nach seiner Daseinsberechtigung gefragt habe, worauf es komischerweise keine Antwort wusste. Eine wirkliche Unterstützung fürs grenzenlose Faulenzen ist Google Home nicht. Eher könnte es für Anti-Aggressions-Training eingesetzt werden.

Gute Nacht, Philipp! Gute Nacht, App!

Alles muss schneller und besser werden, von der Arbeit bis hin zum Schlaf. Nicht nur, dass ich mir schon recht blöd vorkomme, dass mein Handy nach 25 Minuten Arbeit die Pausenglocke betätigt und mir fünf Minuten Ruhe gönnt, obwohl ein Blick auf die Uhr genügen würde. Auch mein Schlafverhalten unterwirft sich dem Produktivitätszwang. Koffein, Alkohol, Sport und Essen zu später Stunde stören die Ruhephase, warnt schon das App-Menü. „Denk dran, dass du morgen fit sein musst, um produktiv zu sein“, höre ich sie förmlich mit erhobenem Zeigefinger zurufen. Ich füge mich und meist belohnt mich die App mit einer hohen Schlafeffizienz von über 90 Prozent. Danke, App! Ich fühle mich ausgeschlafen, aber so ganz schenke ich ihr keinen Glauben. Mir bleibt schleierhaft, wie die App ohne Sensoren mein Schlafverhalten repräsentativ aufzeichnen möchte.

Zurück in die Steinzeit

Von Tag zu Tag merke ich, wie mich diese nahezu monotone Dokumentation meines Lebens belastet und wie sehr mein Handykonsum steigt, während ich den Apps mit einem mulmigen Gefühl Zugriff auf alle Daten gewähre. Tagein, tagaus mutiere ich immer weiter zu einem Smombie, der im Wahn der Selbstkontrolle vom Frühstückstisch bis zum Schlafengehen jedwede Aktivität digital dokumentiert. Genervte Blicke meiner Freunde und Verwandten schweifen über den Esstisch, als ich mein Ernährungstagebuch auf den neusten Stand bringe.

Nach zwei Wochen befreie ich mich von den virtuellen Fesseln und verspüre bei meiner Rückkehr in die vordigitale Steinzeit vor allem eins: Erleichterung. Dass wirklich jedes Tun ins Detail verwaltet wird und zu einer natürlich effizienteren Lebensführung beitragen soll, kommt mir eher vor wie eine Dystopie. Sicher werde ich zukünftig auf Apps wie RunTastic zurückgreifen, um Fortschritte beim Sport festzustellen. Das Arsenal an zeitfressenden Apps hat sich aber ganz schnell wieder von meinem Smartphone verabschiedet. Denn einfach mal den Moment zu genießen, ist an bewusstem Leben doch nicht zu überbieten.

 

Text: Philipp Frohn,
Teaserbild: Lena Schulze

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