„Sie sind wie Blutegel, die sich erst vollsaugen und dann – bevor man sie überhaupt bemerkt – zufrieden abfallen“, umschreibt Dr. Lembcke etwas überspitzt das Verhalten der sogenannten Trittbrettfahrer. Warum man sie trotz ihres schlechten Images in jeder Gruppe findet: Lest selbst, erkennt euch wieder!
02. July 2019 - 10:02 SPIESSER-AutorIn Valentina Schott.
„Na, da hat Lisa ja jemand ganz Tolles mitgebracht“, brumme ich mürrisch in mich hinein und schaue mit verschränkten Armen dem „Bekannten“ meiner Mitbewohnerin zu, wie er sich durch mein Geburtstagsbuffet futtert und eine Flasche nach der nächsten öffnet. Er hätte wenigstens – wie die anderen – etwas mitbringen können, wenn er schon uneingeladen auf einer Party auftaucht.
Niemand scheint den anonymen Gast zu beachten, alle wuseln von einem Raum zum anderen, sodass sich Mr. Schmarotzer drei weitere Käsespieße unbemerkt in den Mund schieben kann. Fast unbemerkt. Denn ich bereite schon innerlich meine Standpauke vor, die ich dem ungebetenen Besuch halten werde. Das macht man doch nicht! Und ich könnte wetten, dass er der Erste ist, der sich aus dem Staub macht, sobald es ums Aufräumen geht! Aber was ich gerade in Miniaturform in meiner WG-Küche erlebe, begegnet uns im wahren
Leben Tag für Tag: Trittbrettfahrer, Menschen, die eine Situation oder ein gemeinsames Gut ausnutzen, ohne selbst etwas zu dessen Existenz beizutragen.
Von Platon bis an die Uni Erfurt
Der Begriff wurde aus einer Epoche übernommen, in der man dieses Verhalten wortwörtlich beim Eisenbahnverkehr, „der“ Erfindung des 19. Jahrhunderts, beobachten konnte. Kurz bevor der Zug losfuhr, sprangen– zack! – die sogenannten „Free Rider“ ( engl. für Trittbrettfahrer) auf den Steg des letzten Zugwagons auf, um sich am Ziel unter die brav zahlenden Fahrgäste zu mischen. Die politische Dimension dieses Phänomens wurde aber schon viel früher erkannt und geht auf Platon zurück, der in seinem Werk „Ring des Gyges“ die Diskrepanz zwischen den eigenen Interessen und den Interessen der Gruppe thematisiert. Ein funktionierender Rechtsstaat, Teamwork, Demokratie, ein Sozialsystem – alles ganz tolle Konzepte, die wir unterstützen, solange nicht „wir“ die Kompromisse eingehen müssen, solange die anderen und nicht „wir“ uns dafür verausgaben müssen.
Im Zuge der Forschung über kollektives Handeln beschäftigten sich vor allem die beiden amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Mancur Olsen in „The Logic of Collective Action“ (1965) und Elinor Ostrom in „Governing the Commons“ (1990) mit dem Free-Rider-Phänomen. Auch Herr Dr. Oliver W. Lembcke geht in seiner Veranstaltung „Vergleichende Regierungslehre“ an der Universität Erfurt auf diesen Sachverhalt ein. Hier hörte ich zum ersten Mal von dem Trittbrettfahrerphänomen.
Ausschlaggebend: die Umstände
„Nicht immer ist es eine moralisch verwerfliche Haltung, die uns von einem kollegialen Verhalten abhält“, erklärt Dr. Lembcke mir in unserem Gespräch. „Häufig sind es falsche Anreizstrukturen oder bestimmte Gruppenkonstellationen, die uns dazu verleiten, nutzenmaximierend zu handeln, statt die Wohlfahrt der Gemeinschaft im Blick zu haben.“ Was heißt das konkret? In meiner überfüllten Wohnung, auf einer Party, auf der ihn sowieso keiner kennt, wagt der „Bekannte“ natürlich eher, sich am Bierkasten zu bedienen, als wenn wir uns in einer überschaubaren Runde am Küchentisch gegenübersitzen würden. Da er morgen früh schon wieder abreist und mir in nächster Zeit wohl kaum über den Weg laufen wird, muss er auch nicht befürchten, sich revanchieren zu müssen. „Die Situation ist also iterativ, sie wird sich nicht wiederholen“, fasst Herr Dr. Lembcke die Eigenschaften zusammen, die zum Free Riding geradezu verlocken.
Und noch ein Faktor begünstigt, dass wir alle früher oder später einmal zum Trittbrettfahrer werden: unklare Eigentumsverhältnisse. Dieses Problem lässt das unsolidarische Verhalten vor allem in der digitalen Welt wieder aufblühen und macht deutlich, dass das soziale Phänomen aktueller denn je ist.
Jetzt mal ehrlich: Wer liest nicht ab und zu „ganz kurz“ etwas auf Wikipedia nach? Und wer hat hingegen schon mal zum Fortbestand und zur Aktualisierung der Plattform beigetragen, indem er gespendet oder sogar selbst einen Artikel geschrieben hat? Für das Ausbeuten verschiedenster Internet-Plattformen nennt mir Dr. Lembcke sogar den genauen Fachbegriff: „Leeching“ (auf Deutsch „aussaugen“). Lieder, Videos, Informationen – hinter dem Bildschirm verschwimmen die Urheberrechte und Lizenzen schnell, das hemmungslose Herunterladen scheint fast zu einfach, um sich verboten anzufühlen. Selbst von Unternehmen wurde das Copyright bisher müde belächelt und die Produkte, ohne dass der Eigentümer Rechte darauf erheben kann, einfach kopiert. Das Beispiel zeigt zum einen, dass sich nicht zwangsläufig nur Individuen illoyal verhalten. Zum anderen spielt es keine Rolle, ob es sich um materielle Güter handelt, auch Informationen und Daten können Trittbrettfahrern „zum Opfer fallen“. Entscheidend ist, dass sie für jeden zugänglich sind und dass im Grunde genommen niemand von ihrer Nutzung ausgeschlossen werden soll.
„Einfaches Beispiel: frische Luft“, gibt Dr. Lembcke der abstrakten Definition eine lebensnahe Form. „Normalerweise hat niemand das Gefühl, dass ihm sein Nachbar die Luft wegatmet.“ Straßenbeleuchtung, Infrastruktur, öffentliche Sicherheit, Deiche – die Liste lässt sich bis ins Unendliche weiterführen. „Diese öffentlichen Güter lassen sich nochmals von den Gemeinschaftsgütern unterscheiden“, präzisiert mein Interviewpartner. Diese weisen zusätzlich die Eigenschaft auf, dass sie begrenzt sind und die einzelnen Nutzer in einem Konkurrenzverhältnis zueinander stehen. Würde man zu fünft in einem kleinen Aufzug feststecken, könnte sich die frische Luft sehr schnell zu einem knappen Gut verwandeln.
Auch im Privatleben müssen wir nicht lange nach Beispielen suchen: Düst mein Bruder gerade mit dem Familienauto durch die Gegend, kann ich es natürlich nicht gleichzeitig nutzen und muss mich wohl oder übel mit den öffentlichen Verkehrsmitteln begnügen. Diese Rivalität führt dazu, dass viele Gemeinschaftsgüter unter Übernutzung leiden. Denn sobald der Wagen dann auf dem Parkplatz steht, drängt sich der Gedanke auf: Schnell den Autoschlüssel sichern, bevor es ein anderer tut.
Lösungsvorschläge: Kontrolle oder Kennenlernen
Vielleicht sollte sich meine Familie mal mit Elinor Ostrom unterhalten, denn sie beschreibt in ihrer Studie effektive Lösungsvorschläge, um in dieser Situation Gerechtigkeit zu schaffen. Ihr Schlüsselkonzept: Kontrolle durch Registrierung. Zum Beispiel durch eine zentrale Instanz, die
genau überwachen würde, wer sich wann des PKWs bedient. Hält sich jemand nicht an die Regeln und drückt sich um seine Pflichten (bspw. Tank auffüllen), empfiehlt sie ein System abgestufter Sanktionen, hier zum Beispiel durch ein Fahrverbot.
Je länger ich über das Problem nachdenke und Beispiele suche, desto mehr gelange ich zu der Einsicht, dass auch ich keine weiße Weste trage. Wie oft habe ich mich schon davor gedrückt, Benzin nachzufüllen und den Nächsten gezwungen, Zeit und Geld in den gähnend leeren Tank zu investieren? Ich seufze und entscheide mich gegen die zurechtgelegte Standpauke, die ich meinem anonymen Gast halten wollte. Sind wir nicht schließlich alle ab und zu Free Rider? Stattdessen stelle ich mich ihm vor. Verlegen wischt er sich den Mund ab und bedankt sich für die Einladung. „Und dieser Nudelsalat ... der ist echt lecker! Kannst du mir das Rezept geben?“
Dr. Oliver W. Lembcke
Dr. Oliver W. Lembcke ist Politik- und Rechtswissenschaftler. Neben zahlreichen Forschungsaufenthalten und Gastdozenturen an deutschen sowie internationalen Universitäten spiegeln sich seine Arbeitsschwerpunkte in der Herausgabe der Reihe „POLITIKA“ (Verlag Mohr & Tübingen) und seiner Mitgliedschaft im Vorstand des Hellmuth-Loening-Zentrums für Staatswissenschaften wider. Seit 2011 hielt Dr. Lembcke verschiedene Lehrveranstaltungen an der Universität Erfurt, bevor er dort im April 2018 eine Vertretungsprofessur für „Vergleichende Regierungslehre“ übernahm. Der Inhalt seiner Vorlesungen und die aktuellen Forschungsschwerpunkte umfassen unter anderem die Analyse und den Vergleich politischer Systeme, Politische Theorie sowie die normative und empirische Demokratieforschung. Im Kontext der Machtressourcentheorie setzte er sich mit Mancur Olsens Werk auseinander und thematisierte das Free-Rider-Phänomen in seinen Lehrveranstaltungen.
Text: Valentina Schott, 21,reagiert natürlich nicht so pampig, wenn jemand mal nichts zu einer Party beiträgt.
Teaserbild: Paula Hohlfeld
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