Angefangen hat meine Phobie, als ich acht Jahre alt war. Ein Polizist kam in meine Grundschulklasse und zeigte uns einen Film. Der Film begann mit der Beerdigung eines Jungen, der bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Im Zeitraffer wurde anschließend gezeigt, wie jener Junge mit seinem Fahrrad auf die Straße fuhr und dann von einem grauen Auto erfasst wurde: Er war sofort tot. In dem Moment passierte etwas mit mir, das offenbar für die Phobie verantwortlich ist.
Als ich mich im folgenden Schuljahr mit den Sinnesorganen befassen sollte, machte sich meine Phobie erstmals deutlich bemerkbar. Die detaillierten Zeichnungen des Innenohrs an der Tafel lösten Panikgefühle in mir aus und ich versuchte, nicht hinzuschauen. Ich fürchtete mich mehr und mehr vor jedem Tag, an dem der Biologie-Unterricht stattfand, und brach mitten im Unterricht plötzlich in Tränen aus, wenn ich es nicht mehr aushielt. Doch der Bio-Unterricht war in den folgenden Jahren nicht das einzige Problem: Die Phobie begegnete mir auf Bildern, beim Arzt, in den Gesprächen anderer Menschen und sogar in ganz gewöhnlichen Büchern. Überall begegneten mir diese Bilder und Worte, die mit der Anatomie des Körpers zusammenhängen. Oft hatte ich das Gefühl, ihnen nicht entkommen zu können, nirgends vor ihnen sicher zu sein. Doch ich erzählte niemandem davon, nicht einmal meinen Eltern. Ich konnte meine Angst nicht beschreiben, gar nicht erst aussprechen. Es gab kein Wort für das, was ich fühlte. Da ich selbst nicht verstand, was in mir vorging, war ich mir sicher, jemand anders würde es erst recht nicht verstehen.
Als meine Lehrerin meinen Eltern irgendwann von den Vorfällen im Unterricht berichtete, merkten sie, dass etwas mit mir nicht stimmte. Sie gingen mit mir zu verschiedensten Ärzten, Psychologen und Therapeuten. Bei manchen war ich jahrelang, doch von meiner Angst befreien, konnten sie mich nicht. Die Zeit verging, doch die Momente tauchten immer wieder auf, in denen ich von meiner Phobie überrascht wurde und sie mich sprichwörtlich in einen dunklen Abgrund stürzte.
Es gab auch die Momente, in denen ich meine Angst einfach nur satt hatte. Als ich mit dreizehn in den Alpen Urlaub machte, ging ich weit auf einen Berg hinauf, wo mich niemand hören konnte – und schrie meine Wut über die Phobie hinaus. Einmal malte ich ein Bild mit Bleistift, auf dem sich ein weinendes Gesicht befand und daneben ich mit einem Schwert in der Hand. Mit diesem Schwert, so beschloss ich, wollte ich endlich meine Angst besiegen.
Dieses Bild kopierte ich mehrmals, um die Kopien dann im Tiefkühlfach einzufrieren, im Kamin zu verbrennen, in der Erde zu vergraben, im Fluss zu ertränken. Ich tat alles, was mir einfiel. Manchmal fragte ich mich voller Verzweiflung, ob ich diese Angst nie loswerden würde. Ich erkannte, dass ich nicht vor ihr weglaufen konnte, denn sie war ein Teil von mir. So sehr ich sie auch hasste. Und vor sich selbst kann man niemals weglaufen. So forderte ich meine Phobie heraus, indem ich ein Buch aufschlug, von dem ich wusste, dass ich ihr darin begegnen würde. Doch auch die Konfrontation nützte nichts. Das Bild von dem Jungen, der auf der Motorhaube aufprallte, stand mir auch Jahre später noch klar vor Augen.
Die Phobie änderte sich nicht. Doch ich begann, mich zu verändern. Mit der Zeit beschloss ich, dass sie mich nicht daran hindern sollte, glücklich zu sein und mein Leben zu leben. Nachdem ich so lange damit zu kämpfen hatte, stand ich endlich aus eigener Kraft auf.
Heute kann ich sagen, dass ich inzwischen mental so stark geworden bin, dass die Phobie mich nicht mehr so wie früher treffen kann. Verschwunden ist nicht ganz, aber sie hat ihre Macht über mich verloren. Wahrscheinlich wäre ich ohne sie nicht einmal so stark, wie ich bin. Und ich weiß jetzt, egal, wie hoffnungslos alles erscheint, trotzdem gibt es immer eine Chance, wieder aufzustehen und mit neuer Kraft weiterzumachen!