SPIESSER Community

Brief an… mein analoges Selbst

Ich räume nicht auf. Ich stehe nur in meinem Zimmer, weiß nicht, wo ich in dem Chaos anfangen soll, räume hin und her und puste den Staub von meinen Regalen und blättere in alten Büchern.

14. April 2011 - 17:17
von SPIESSER-Autorin Sachtextgemüse.
Noch keine Bewertungen
Sachtextgemüse Offline
Beigetreten: 05.04.2011

Heute habe ich wieder aufgeräumt. Ich habe dabei alles Mögliche wiedergefunden, darunter ein schrumpeliger Apfel, der aber noch essbar ist, Filzhaargummis aus der Grundschule, Briefe, die ich auf einer Ferienfreizeit nie verschickt habe, weil ich schon damals Prokastinator war, was irgendwie wie Terminator klingt, alte Rollen Klebeband, beschmierte Lineale, zerknittertes Papiergeld, eine Packung Fishermans Friends, offenbar aus dem alten Rom, zerfledderte Comics und ein Wollknäuel.
Ich habe Pfennigstücke gefunden und eine weiße Postkarte, auf die eine Pfenningbriefmarke geklebt ist, Briefchen an meine Sitznachbarn, ein Bilderrahmen aus Schaumgummi, Zeichnungen, fünf Eulenpostkarten und natürlich Fotos.

Alte Fotos von meiner Freundin mit Topfschnitt in ihrem Zimmer, grinsend, die Augen zugekniffen, weil ich geblitzt habe. Ein verschwommenes Foto einer Schlange im Laub. Unser Hund, der heute älter ist als ich, an der Leine neben einem Fliegenpilz im Laub sitzend. Ein Zeltplatz der Pfadfinder und ein Haufen Wölflinge, die sich auf einen Betreuer stürzen und ihn unter sich begraben. Meine Oma mit Sonnenbrille auf einer Frühlingswiese, breit grinsend. Mein Papa mit ziemlich kurzen Haaren und seiner obligatorischen Kamera vor dem Gesicht vor unserem alten Wagen.
Ein paar Kinder auf einer von Löwenzahn völlig gelben Wiese. Ein grobkörniges Foto von altem Gestrüpp und leuchtend weißen Enteneiern im Nest in der Mitte. Ein Blick auf die Themse im Sonnenlicht. Die großartige Hütte, die wir auf einer Ferienfreizeit im Wald aus trockenem Holz gebaut und mit Tannenzweigen abgedeckt haben. Der Sonnenuntergang, vollkommen grobkörnig und kaum als solcher zu erkennen hinter dem Wald. Eine Möwe auf einem Autodach beim Warten auf die Fähre in Dover und mein Schatten daneben. Ich als Kind, meine kleine Kamera um den Hals gehängt, in Unterwäsche bis zu den Knien im See, breit grinsend. Ein Stück Watt. Ein Blick auf die Nordsee. Ein überbelichteter Schwan im Wasser.
Mein Bruder in seinem Bett, kreischend, seine Stoffschlange von Ikea neben sich. Meine Mama im Schnee bei den Pferden. Ein Jugendfreund von mir, den ich so fotografiert habe, dass er augenscheinlich einen riesigen Ast stemmt, beim Trinken aus der Dose in England. Wir beim Karneval, als Hexen verkleidet, woran ich mich gar nicht erinnern kann. Wir auf der Treppe mit unseren Hunden auf dem Schoß, beide mit weiß blitzenden Augen wegen des Blitzes, ich mit knallroter Hose, mein Bruder grinsend, der eine Hund mit vor Missbilligung angelegten Ohren. Meine Freundin, die sich kopfüber vom Bett beugt und ihr langes Haar herunterhängen lässt. Mein Daumen in jeder Fotoecke, weil ich damals noch nicht fotografieren konnte.

Überbelichtete, unterbelichtete und grobkörnige und gestochen scharfe, grässliche und wunderschöne analoge Fotos, alle in einer Kiste, zusammen mit den Filmen in verschiedenfarbigen Filmdosen. Flecken auf manchen Bildern, die ich irgendwie noch abkriegen muss.
Diese dilettantischen, wunderbaren Bilder. Tausend Erinnerungen aus sechs oder sieben Jahren. Alles gedankenlose Kinderknipserei, aber irgendwie doch wieder großartige Fotokunst.

Und statt weiter aufzuräumen, sitze ich jetzt da, sehe mir Bilder von Dingen und Lebewesen an, die bald nicht mehr in meinem Leben sein werden. Weil ich kein Pfadfinder mehr bin, weil ich Dinge wegwerfen muss, weil Hunde nicht ewig alt werden und Menschen auch nicht. Weil ich nie wieder einen so schönen Fliegenpilz sehen werde und nie wieder auf dieser einen Ferienfreizeit sein werde und unsere Hütte und die ganzen Lagerfeuer längst nicht mehr sind. Weil wir nur noch digital leben, weil wir nicht mehr rausziehen, nicht mehr dokumentieren, ohne viel nachzudenken, und weil wir nicht mehr bewusst abwägen, was wir dokumentieren wollen. Wir haben unbegrenzte Möglichkeiten. Wir entfernen uns von unserer verdammten analogen Realität, die eben auch mal heißt, dass etwas theoretisch nicht geht, aber trotzdem getan werden muss, nämlich langweilige Motive wie Stoffschlangen fotografieren und den Nachthimmel, obwohl es zu dunkel für Fotos ist.

Ich sehe mir also all diese Fotos an, statt aufzuräumen, und um ehrlich zu sein ist es mir das wert, das Chaos ein bisschen länger zu dulden, und wenn ich ganz und gar ehrlich bin, dann hocke ich immer noch vor lauter alten Fotoabzügen und weine, weil die Welt, die ich als Kind geliebt habe und noch heute so sehr liebe, so gottverdammt vergänglich ist.

Dir gefällt dieser Artikel?

Kommentare

Zwei Kommentare
  • Dankeschön! Deine Einschätzung freut mich. Auch wenn der Artikel ein bisschen sehr kitschig ist, aber manchmal muss das ja auch sein. Life goes on. Trotzdem. SEUFZ

    Ich glaube, ich werde mal die Bücherei meines Vertrauens heimsuchen. Danke für den Tipp!

    - Sachtextgemüse

  • Anfangs finde ich mich zu 100 % wieder, nur leider habe ich nicht so viele Fotos gemacht als ich klein war, aber trotzdem sitze ich auch lieber im Dreck uns schwelge in Erinnerungen, anstatt mein Chaos zu beseitigen.
    Ich kann deine Tränen nachvollziehen, würde am liebsten mitheulen, aber was will man machen, wir werden diesen Planeten nicht anhalten und die Zeit bleibt nicht einfach stehen.

    Noch ein Tipp: Das Buch "Die Rebellion der Maddie Freeman" spielt in der Zukunft, in der wirklich alles digitalisiert ist, verbirgt im Lauf der Zeit, die Maddie mit einem analogen Jungen verbringt, aber immer mehr Momente, in denen einem bewusst gemacht wird, wie schön das Leben doch ohne Computer sein kann.
    (So zumindest geht es mir)
    Das ganze ist natürlich auch bloß ein erfundener Jugendroman, aber ich finde, die Zukunft sollte immer noch offen für Momente und Erinnerungen, wie die deinen, sein.

Mehr zum Thema „SPIESSER Community
  • BHK
    5
    SPIESSER Community

    THW – und was ist das überhaupt?

    Eigentlich fing alles ganz anders an – nämlich auf der 69. young leaders Akademie in Paderborn vom 20.-25.10.2020 für engagierte junge Menschen – aber am Ende ging ich mich vielen neuen Eindrücken über das THW nach Hause. Die young leaders Akademie ist ein Angebot für

  • steffenebersbacher
    5
    SPIESSER Community

    Die 5 größten Irrtümer über das Fernstudium

    Spielst du mit dem Gedanken, ein Fernstudium zu absolvieren, hast aber noch so deine Zweifel, ob es wirklich das Richtige für dich ist?

  • Marie Gneuss
    SPIESSER Community

    Machen ist wie Wollen, nur krasser!

    Loslegen. Jetzt. 

  • SPIESSER Community

    Thron gegen Mastermind

    Es wird niemand Interessieren, aber trotzdem muss es einmal gesagt werden!  

  • Joshua94
    5
    SPIESSER Community

    Angst macht Hass

    Viktor W. (28) ist Geschichtsstudierender an der Uni Münster und ein sogenannter Russlanddeutscher. Das heißt, seine Familie brach vor weit über hundert Jahren in Richtung Russland auf, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Vor mittlerweile fast dreißig Jahren wollte Viktors Vater

  • PiaRTR
    SPIESSER Community

    Der rechte Mythos der Globalisierungsverlierer

    Die Wahlerfolge der AfD wurde oft durch die sogenannten "Globalisierungsverlierer" erklärt, die sich aus Protest von den etablierten Parteien abwenden. Diese Argumentationsweise ist jedoch nicht nur empirisch nicht belegt, sondern blendet zentrale Faktoren der Wahlerfolge aus und spielt der AfD somit in die Karten.

  • Anni Malter
    SPIESSER Community

    Zwischen Zeilen und Zerstörung

    Früher hatte die Welt des Kriegsjournalismus fast schon etwas Romantisches. Ernest Hemmingway verarbeitete seine Zeit im Spanischen Bürgerkrieg in seinem Roman „In einem anderen Land“. Während des zweiten Weltkrieges gehörten die Journalisten ebenso an die Front, wie die

  • Onlineredaktion
    SPIESSER Community

    EU-Lobbyismus für das Gute

    Alles, was die Weltenlenker*innen heute entscheiden, wird richtungsweisend sein für unser zukünftiges Leben auf diesem Planeten. Wir müssen uns fragen: In was für einer Welt wollen wir leben? Welche Rolle soll die EU dabei spielen, wenn Staaten wie die USA und China vor allem nationale

  • Kevin Groth
    SPIESSER Community

    Ein Tag ist nicht genug.

    Warum ein Tag noch lange nicht genug ist! Zehntausende Schüler folgten dem Vorbild der schwedischen Dauer-Klima- Streikerin, die sitzend ihre Wut demonstrierte, und gehen jeden Freitag in den Städten dieser Welt auf die Straße, um für ihre Zukunft zu kämpfen. Aber nicht sie

  • Paul Nähring
    SPIESSER Community

    FridaysForFuture: Die Jugend, der Frühling der Gesellschaft

    User Paul Nähring gibt mit diesem Gastbeitrag ein paar Nachhilfestunden in Sachen Geschichte, der Rolle der Jugend in dieser und über ihre Bedeutung für die Gesellschaft. #FridaysForFuture

  • WORD AND PLAY
    SPIESSER Community

    WORD&PLAY!

    Kostenfreie Sommercamps, die euch zu Gaming Designern und Fontane-Kennern machen.  Ihr wolltet schon immer wissen wie Computerspiele entstehen? Ihr interessiert euch für das kreative Schreiben von Geschichten? Euch fasziniert das Erstellen von witzigen, fiesen oder heldenhaften Charakteren?

  • Tobias Ergenzinger
    SPIESSER Community

    Planspiel der Vereinten Nationen in New York

    Das National Model United Nations (NMUN) in New York City ist die weltweit bedeutendste Simulation der Vereinten Nationen, die jedes Jahr mehrere tausend engagierte Studentinnen und Studenten aus aller Welt in die Millionenmetropole an der Ostküste der USA lockt. In Delegationen organisiert, vertreten

  • Onlineredaktion
    SPIESSER Community

    Global Goals Aktionstage

    Ein Bericht von Gastautor Felix Kaminski (22) über die Global Goals Aktionstage 2019 und junge Menschen, die Untätigkeit in der Klimapolitik nicht länger hinnehmen wollen. Seine Überzeugung: Es ist unsere Zukunft, die bedroht ist, wenn wir die Nachhaltigkeitsziele nicht erreichen.

  • Febegc
    SPIESSER Community

    Eine Milliarde Euro mehr gegen Armut – mein Einsatz hat sich gelohnt

    Ein Bericht über mein Engagement, wie ich Kofi Annan traf und mein Einsatz Früchte getragen hat.

  • Julaaa
    SPIESSER Community

    Der Innotruck in der BTU Cottbus- Senftenberg

    Die Universität BTU Cottbus-Senftenberg bietet viele interessante Studiengänge und über 70 verschiedene Sportarten für Ihre Studierenden an. Auch viele internationale Studentinnen und Studenten lernen und leben  hier zusammen. In Vielen Bereichen ist die BTU Cottbus-Senftenberg

  • sounds
    SPIESSER Community

    Limits - bin mehrmals aus dem 7. Stock gesprungen

      Ich bin mehrmals aus Fenstern im 7. Stock gesprungen, woraus ein Musikvideo zu meinem Song LIMITS entstanden ist: https://youtu.be/dc3EW7fgqk8   Bei meinem letzten Sturz fiel ich in Kunst hinein: [Bild:1]   Viel Spaß mxk    

  • Onlineredaktion
    SPIESSER Community

    SPIESSER-Medien-Camp Dresden: Teilnehmer gesucht!

    Ihr habt Lust, richtig SPIESSIGE Inhalte mit uns zusammen zu organisieren und zu produzieren? Ihr habt Lust, mehr über Print- /Online- und Video-Content zu erfahren? Dann bewerbt euch für das SPIESSER-Medien-Camp in Dresden, das wir im August 2018 in Kooperation mit ausbildung.de anbieten!

  • Moritz_toz
    SPIESSER Community

    Abhandlung zur
    Existenz des Osterhasen

    Seit Jahrtausenden glauben wir Menschen an Dinge, die noch nicht bewiesen wurden. Gott, der Weihnachtsmann, der Humor Mario Barths oder die politische Überzeugung Angela Merkels, sind nur einige Beispiele. In dieser Abhandlung möchte ich mich nun mit weiteren Dingen beschäftigen, an die

  • manuelw
    4
    SPIESSER Community

    Eine Million Menschen stehen „Draußen vor der Tür“

    Eine Million Menschen vor der Tür – ok, Flüchtlingskrise. „Draußen vor der Tür“ – ok, Wolfgang Borcherts Drama von 1949. Was hat das denn miteinander zu tun? Lasst es mich euch erklären.

  • johannes_danjo
    SPIESSER Community

    Wie ein einziger Gedanke meinen Tag versaut

    Es ist schon schlimm, wenn ich Fotos sehe. Besonders eklig wird es, wenn ich diese Krabbeldinger im Fernsehen vorgesetzt bekomme. Wenn die achtbeinigen Ungeheuer aber durch mein Wohnzimmer huschen, dann ist mein Tag gelaufen!

  • Alina Mohaupt
    SPIESSER Community

    RockTheVote2k17-Für Veränderung bereit!

    „Wir wollen Veränderung!“ „Lahme Entenregierung!“ Solche mürrischen Stimmen werden immer häufiger laut, während die Uhr unaufhörlich Richtung Stunde Null der Bundestagswahlen 2017 am 24. September tickt. Anstatt sich, wie in den vorigen Jahren, von einer

  • samuel.groesch
    SPIESSER Community

    G20 in Hamburg
    Protest, Krawall und
    Besen schwingen

    Bunte Demonstrationen und brennende Barrikaden. Beim G20-Gipfel in Hamburg hat sich Protest von seiner besten und seiner schlimmsten Seite gezeigt. SPIESSER-Autor Samuel war für euch mit seiner Kamera mittendrin im Getümmel. Hier findet ihr seine eindrücklichsten Bilder.

  • Onlineredaktion
    SPIESSER Community

    SPIESSER Sommerworkshop

    Der SPIESSER ist euer treuer Begleiter in jeder Pause? Oder ist euch das gelb-blaue Jugendmagazin noch nie aufgefallen? Ihr seid zwischen 15 und 17 Jahre alt und habt Lust, das kreative Treiben in einer Redaktion kennenzulernen? Dann laden wir euch ein, in einem Sommerworkshop mit uns zusammen den SPIESSER

  • Leamarie25
    SPIESSER Community

    I go crazy! Aber nur wenn ich weg bin.

    SPIESSER-Userin Leamarie25 fragt sich: Warum kann ich zuhause nicht einfach mal genauso spontan, offen und abenteuerlustig wie im Ausland?!

  • DoH.
    5
    SPIESSER Community

    Donald Trump, Marine Le Pen, Björn Höcke – Und was hab ich damit zu tun?

    fragt sich SPIESSER-User DoH. kopfschüttelnd.

  • stoffteddy
    SPIESSER Community

    Großstadtneid

    Eine sehnsüchtige Liebeserklärung an die Großstadt von stoffteddy.

  • Story-Julez
    5
    SPIESSER Community

    Wie weit darf die Wissenschaft gehen?

    Diese Frage habe ich mir neulich im Ethik-Unterricht auch gestellt, als wir über das Gewissen eines Menschen gesprochen haben. Unsere Lehrerin zeigte uns einen Filmausschnitt, welcher ein sehr interessantes Experiment veranschaulichte: Das Milgram-Experiment. Es wurde 1962 das erste Mal vom gleichnamigen

  • Anna.R.
    SPIESSER Community

    Wie ich im Ausland an Ruhm kam

    „Elle parle anglais!“ („Sie spricht englisch!“) oder „Mais elle est allemande!“ („aber sie ist doch deutsch!“) sind Sätze die ich in Diskussionen zwischen französischen Schülern über mich und meine prinzipiell liebste Sprache oft zu hören bekam.

  • Chaosnudel
    SPIESSER Community

    „Wenn er meine Freundin wäre...“

    Nach langem Streit sind Sido und Bushido nun ein Herz und eine Seele. Zum Beweis haben sie gemeinsam das Album „23“ produziert. SPIESSER-Autorin Franka reichte das nicht: Sie traf die beiden zum Pärchenspiel, dem sogenannten „Eignungstest für die Ehe“...

  • juwe
    SPIESSER Community

    DJ aus Leidenschaft: Das Phänomen David Guetta

    David Guetta ist aus der DJ-Szene nicht mehr wegzudenken. Jens war für euch bei einem seiner Konzerte und hat mit dem DJ-Phänomen über seine Fans, die Arbeit und Hobbies gesprochen.