Mara
Ich saß in meinem Zimmer und starrte aus dem Fenster. Es regnete jetzt schon seit zwei Stunden und es waren gerade mal zwei Grad. Im Hochsommer. Das war kein gutes Zeichen. Seufzend wandte ich mich von dem Fenster ab und versuchte mich wieder auf meine Hausaufgaben zu konzentrieren. Ich steckte mir die Kopfhörer in die Ohren und fing an Musik zu hören. Ich konnte nur hoffen, dass es meinen Eltern gut ging. Warum mussten sie auch ausgerechnet heute zu dieser Party?! Hoffentlich waren sie wegen des Regens nicht von der Straße abgekommen oder so. Ich hatte schon seit ich aufgestanden war so ein komisches Gefühl. Aber jetzt musste ich wirklich aufhören mir Sorgen zu machen, sonst würde noch wirklich etwas passieren. Ich sah wieder aus dem Fenster und betete stumm, dass meine Eltern doch bald zurück kommen mögen.
Der Wind rüttelte an den Zweigen der alten Eiche, welche in dem Garten der Nachbarn stand. Ich fragte mich, wie es nach diesem Sturm wohl draußen aussehen würde. Bestimmt würden wieder überall die Äste der Bäume herum liegen und die Straßen würden gesperrt sein.
Das klingeln des Telefons riss mich aus meinen Gedanken. Waren das vielleicht meine Eltern? Ich riss mir die Kopfhörer aus den Ohren und schmiss diese zusammen mit meinem Vokabelbuch auf das Bett. Dann rannte ich die Treppe runter und hielt schlitternd vor dem kleinen Schränkchen auf dem das Telefon stand.
„Schneider?“, meldete ich mich ein wenig atemlos, „Wer ist da?“
„Ich bin's!“, antwortete die Stimmer meiner besten Freundin Michelle, deren Eltern auch auf der Feier waren. „Sind deine Eltern schon da? Meine nicht und ich mache mir ein wenig Sorgen...“
„Ne, meine sind auch noch nicht da, aber ich denke nicht das wir uns Sorgen machen müssen. Vielleicht übernachten sie ja bei Kristiane. Ich glaube eigentlich nicht das sie bei so einem Wetter fahren würden. Sie sind schließlich nicht vollkommen bescheuert. Aber mal was anderes, hast du in letzter Zeit etwas von Lulu gehört? Seit Corinna an der Schule ist meldet sie sich garnicht mehr und hat nie Zeit. Ich versteh das nicht! Was hat diese arrogante Ziege denn bitteschön, was wir nicht haben?!“
„Keine Ahnung! Hast du gesehen wie die beiden letztens Cora behandelt haben? Wie den letzten Dreck! Ich hätte ja gerne etwas gesagt, aber da geht man besser nicht dazwischen. Ich meine anfreunden werde ich mich mit Corinna nie, aber als Feindin brauche ich sie auch nicht gerade. Und wie die sich an den neuen Referendar ran machen! Meine Güte, ich habe echt Mitleid mit ihm und bin wirklich froh, kein Junge zu sein! Wie kann Lulu sich von der, abgesehen von dir, nettesten Person die ich kannte in so eine aufgeblasene Tussi verwandeln? Wirklich, ich habe immer gedacht das ihr Freundschaft, richtige, ehrliche Freundschaft und vertrauen wichtiger sind als Beliebtheit und Jungs! Wobei ich das bei den Jungs ja noch ein bisschen verstehen kann. Zum Glück ist Jonas nicht so blöd, und geht auf die ein“
„Ja, das würde ich ihm auch nicht empfehlen. Er hat dich noch niemals richtig wütend erlebt. Und sollte er es wagen dich zu verletzten, kann ich für nichts...“
Plötzlich wurde ich von einem lauten Schrei unterbrochen und ließ vor Schreck fast das Telefon fallen.
„Hör mal Michi, muss jetzt Schluss machen. Bis Morgen!“, rief ich noch schnell in den Hörer, dann legte ich auf. Ich rannte so schnell ich konnte nach draußen in den Garten und sah, dass ein Ast der Eiche der Nachbarn abgebrochen war. Ich schaute mich um und versuchte herauszufinden, wer da eben so geschrien hatte. Als ich gerade wieder hinein gehen wollte, da es mir etwas zu nass wurde, sah ich sie. Der Oberkörper des Nachbarmädchens, der vierjährigen Lisa Braun, lugte unter dem riesigen Ast hervor. Ich schlug die Hände vor den Mund und rannte sofort rein, zum Telefon. Ich wusste, dass Lisas Eltern ebenso wie die halbe Stadt auf dieser Party von Kristiane, Corinnas Mutter, waren und sie deshalb ein Kindermädchen angerufen hatten. Ich wusste aber auch, dass dieses Kindermädchen kurz nachdem sie sich von Lisas Eltern verabschiedet hatte, wieder gegangen war. Eigentlich hatte ich vorgehabt, ein Auge auf Lisa zu habe, aber ich war davon ausgegangen, sie würde schon längst schlafen. Ein schwerer Fehler. Ich nahm den Hörer ab und wählte den Notruf. Ich beschrieb der Frau was passiert war, dann rannte ich sofort wieder raus, zu den Nachbarn. Ich ging neben dem Ast in die Knie. Ein Glück, Lisa atmete noch. Sanft rüttelte ich an ihrer Schulter und rief ihren Namen. Aber sie wachte einfach nicht auf. Ich versuchte natürlich den Ast von ihr runter zu bekommen, aber das ging nicht, er war zu schwer. Als setzte ich mich neben Lisa und strich ihr sanft übers Haar. Ich fragte mich, wann der Notarzt denn endlich kommen würde und erinnerte mich wieder an die Straßen. Ich hoffte sie würden es rechtzeitig schaffen. Sie war doch so jung. Ich rief wieder ihren Namen, diesmal wachte sie auf und schaute mich an.
„Hey Lisa, ich bin Mara, von nebenan“, ich deutet auf unser Haus, „Es wird gleich jemand kommen, okay? Hast du Schmerzen?“
Lisa schüttelte den Kopf und sagte mit schwacher Stimme: „Nein, ich spüre nichts. Gar nichts.“ Anscheinend wurde sie sich in diesem Moment erst wirklich der Tatsache bewusst, dass sie unter einem riesigen Ast eingeklemmt war, denn sie schaute an sich herab und fing dann an zu weinen.
„Oh bitte, weine nicht! Es kommen gleich Leute, die werden dir helfen, okay? Deine Eltern werden bestimmt auch gleich da sein. Es wird alles gut, ja? Aber bitte, bitte weine nicht“
Lisa beruhigte sich ein bisschen und deutete auf ihr Haus.
„Holst du mir Stella? Meine Puppe?“, fragte sie leise. „Aber komm sofort wieder, ja?“
Ich nickte und stand auf. Ich kannte ihre Puppe Stella, Lisa lief jeden Tag mit ihr herum. Ich lief zu dem Haus und ging durch die geöffnete Terrassentür hinein. Lisas Puppe lag auf einem kleinen Tischchen. Ich nahm sie mir und rannte so schnell ich konnte wieder raus. Als Lisa die Puppe sah, streckte sie schwach ihre Arme nach ihr aus. Sie wirkte so schwach. Ich gab ihr die Puppe und setzte mich wieder hin. Ich zog ihr kleines Köpfchen in meinen Schoß, da der Boden vermutlich nicht so bequem war. Auch wenn das vermutlich keine Rolle mehr spielte. Ich hatte inzwischen wenig Hoffnung, das noch jemand kommen würde. Zumindest rechtzeitig. Sie war in diesen wenigen Minuten immer schwächer geworden und wirkte so blass. Lisa hatte kaum noch genug Kraft Stella festzuhalten und ich sah wie anstrengend das Amten für sie geworden war. Sie hielt einfach nur ihre Puppe fest und sah zu mir auf. Dann stellte sie eine Frage die ich von einer Person in ihrem Alter niemals erwartet hätte, nicht mal in so einer Situation.
„Ich werde sterben, oder? Der Arzt wird es nicht schaffen und meine Eltern auch nicht, stimmt das?“
Traurig sah ich auf sie hinab. Sie war so zart und klein. Ich verstand nicht wie man solch ein zerbrechliches Wesen alleine lassen konnte. Ich hätte kommen und auf sie aufpassen sollen, dann wäre das alles nicht passiert. Sie sah mich immer noch fragend an.
„Ja“, flüsterte ich, „Ja, du wirst wahrscheinlich sterben. Aber denk nicht daran, ich werde bei dir bleiben“
Sie nickte nur und schob ihre kleine Hand langsam in meine. Ich drückte sie leicht. Ihr Atem wurde immer schwächer, ich konnte es kaum noch sehen. Langsam fielen ihr die Augen zu, doch sie lebte, noch. Tränen liefen mir über die Wangen und vermischten sich mit dem schwächer werdenden Regen. Dann hörte ich die Sirenen auf der Straße, ein Auto hielt und Leute kamen durch den Garten auf uns zu gerannt. Ich rührte mich nicht, bemerkte sie kaum. Es war zu spät. Sie brachten Lisa weg, doch ich blieb sitzen als wäre ich festgewachsen. Es hatte aufgehört zu regnen und ein einzelner Mondstrahl fiel auf Stella. Abwesend nahm ich die kleine Puppe in die Hand und hielt sie fest. Dann stand ich langsam auf, ging zurück zu unserem Haus, hoch in mein Zimmer. Ich fegte das Buch und den MP3-Player mit der Hand vom Bett und ließ mich mit meinen nassen Sachen hinein fallen. Ich zog die Decke über den Kopf, rollte mich zusammen und presste die kleine Puppe an mich. Kurz bevor ich einschlief ging mir ein Satz durch den Kopf, den Lisa einmal den ganzen Tag gesungen hat: Zieh ich Arm und Beine ein, könnt ich 'ne Tomate sein. Ich musste unwillkürlich lächeln.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war mir kalt, doch ich wusste nicht ob körperlich oder seelisch. Vermutlich beides. Ich zog mir schnell meinen Schlafanzug an. Dann ging runter, machte mir Tee, setzte mich im Wohnzimmer auf die Couch und deckte mich zu. Stella saß neben mir. Immer wieder dachte ich daran, dass ich es so einfach hätte verhindern können. Ich hätte nur für ein paar Sekunden mich und meine Sorgen vergessen müssen, dann wäre ich rüber gegangen und hätte auf Lisa aufgepasst. Aber ich war hier geblieben. Lisa war tot. Und ich hätte es verhindern könne. Hatte ich aber nicht. Jetzt war es zu spät.
Gegen Mittag kamen meine Eltern mit den Brauns zurück. Anscheinend hatte sie noch niemand informiert, denn sie wirkten alle sehr geschockt, als sie mich da so sitzen saßen, mit Stella an mich gepresst, ins leere blickend. Meine Mutter berührt mich sanft an der Schulter und fragt was passiert wäre. Ich sage nichts, starre weiter ins nichts und deute nach draußen. Lisas Eltern rannten raus, sahen den Ast und verstanden. Lisas Mutter brach weinend in den Armen Lisas Vaters zusammen. Ich starrte sie nur an, mein Gehirn wollte das alles nicht aufnehmen. Konnte das nicht verarbeiten. Meine Eltern setzten sich auf die andere Couch, wie paralysiert, wie ich. Und Lisas Eltern weinten weiter.
Irgendwann standen sie auf und brachten die Brauns rüber, in ihr Haus. In dieser Zeit, in der sie weg waren, spürte ich es das erste mal. Es fühlte sich an, als wäre noch jemand mit mir im Raum und würde mich beobachten, doch ich konnte niemanden sehen. Seufzend stand ich auf und fing an den Esstisch zu decken. Ich hatte Hunger, und ich nahm an das meine Eltern auch noch nicht gegessen hatten. Ich tat die Toast in unseren tollen 6-Scheiben Toaster und wartete. In dieser Zeit stellte ich Marmelade, Nutella, Butter und Wurst auf den Tisch. Als die Toast fertig waren, legte ich sie in den Brotkorb und stellte diesen ebenfalls auf den Tisch. Fast in dem selben Moment kamen meine Eltern herein. Wir setzten uns zusammen an den Tisch und frühstückten schweigend.
„Wie fühlst du dich? Meinst du, du schaffst es morgen in die Schule zu gehen?“, fragte meine Mutter vorsichtig. Ich nickte, obwohl sich mir bei dem Gedanken, Corinna zu sehen, der Magen umdrehte. Sie würde vermutlich nur von der tollen Party reden, dass ein kleines Mädchen gestorben war, wäre unwichtig. Als wir fertig waren, wollte ich anfangen den Tisch abzudecken, aber meine Mutter winkte ab und sagte, ich solle mich noch etwas ausruhen. Ich nahm Stella, welche ich bis jetzt kein einziges Mal abgelegt hatte, und ging in mein Zimmer. Ich legte mich auf mein Bett und starrte nach oben. Ich kannte das Mädchen, das gestern auf Lisa hätte aufpassen sollen. Es war Corinnas beste Freundin Johanna gewesen. Wahrscheinlich hatte sie sich, wo ihre Eltern ja nicht da gewesen waren, mit irgendeinem Jungen getroffen. Mir viel auf, dass es genau in dem Moment, in dem sie gegangen war, angefangen hatte zu regnen. Und es war kalt geworden. Ein Wunder das ich jetzt nicht krank war. Ich bekam wieder dieses Gefühl beobachtet zu werden, aber ich versuchte nicht darauf zu achten. Da war niemand, und zwar, weil da niemand sein konnte. Es gab keine Geister oder so einen Mist und das mit dem Regen gestern war eben, Zufall. Okay, das war noch unwahrscheinlicher, ganz ehrlich.
Oh... ich musste voll weinen. Schreib weiter, okay?
:)
schön! Ich mag es wirklich sehr, und würde mich über eine Fortsetzung freuen ;)
trotzdem weiter kommentieren. Tipps sind immer gut!
Aber ehrlich gesagt würde ich das Telefongespräch abkürzen. Ich mag es gar nicht, wenn die Personen plötzlich anfangen zu lästern.
Ansonsten wirklich gut! :)
Ich habe den Text im dunkeln gelesen, und muss sagen, ich hatte zeitweise wirklich Angst wie in einem Horrorfilm. Das ist sehr schön geschrieben und ist sehr dramatisch, natürlich auch traurig.
Schreib unbedingt weiter!!!
:))
Danke