Lesekreise haben den Ruf, eine verstaubte Praxis aus vergangenen Tagen zu sein. SPIESSER-Autor Pierre möchte jedoch anregen, gerade jetzt in Zeiten der Pandemie wieder auf diese Zirkel zurückzugreifen.
Seien wir mal ehrlich: „Lesekreise“ klingen nicht gerade nach Spaß. Schon das Wort selbst klingt verstaubt. Diese Zirkel scheinen eher etwas für Menschen zu sein, die im analogen Zeitalter steckengeblieben sind: Weil in ihrem Leben sonst nichts spannendes passiert, stecken sie ihre Nasen tief in Bücher und kommen dann nicht mehr mit der Realität zurecht. So war zumindest bis jetzt meine klischeebehaftete Vorstellung davon. In meinem Studium lernte ich dann auch noch genau solche Menschen kennen. Mitstudierende, die sich wöchentlich trafen, um außerhalb der Seminare noch mehr Zeit mit abstrakten Theorien zu verbringen. Dabei schien es vor allem darum zu gehen, sich gegenseitig mit ihrem Klugscheißertum zu überbieten. Das war definitiv nichts für mich. Kluge Sprüche von Kommilitonen musste ich mir im Unialltag bereits genug anhören. Ganz zu schweigen von den traumatischen Erfahrungen mit Gedichtanalysen aus dem Schulunterricht früher.
Im letzten Jahr jedoch gründete ich endlich meinen ersten eigenen Lesekreis. Der Zeitpunkt der Gründung schien nicht gerade klug gewählt, weil wir uns kurz vor dem ersten Lockdown befanden. In einem physischen Raum treffen konnte sich meine Gruppe nur genau einmal, bevor wir auf digitale Möglichkeiten umsteigen mussten. Trotzdem bin ich ein Jahr später froh, mich darauf eingelassen zu haben. Natürlich ist es nervig, sich online zu treffen und wahrscheinlich wird es auch weiter bei jedem Treffen die eine oder andere technische Schwierigkeit geben. Es wäre natürlich auch schöner, den Menschen, mit denen ich da rede, direkt ins Gesicht sehen zu können statt in mein Laptopmikrofon hinein zu sprechen. Aber das lässt sich nun einmal nicht ändern. Und ich finde: Gerade jetzt brauchen wir doch Orte, an denen wir uns austauschen können – auch, wenn es nur virtuelle Orte sein dürfen.
Ich habe nämlich gemerkt, dass ich meinen eigenen Lesekreis so gestalten kann, wie ich das möchte. Niemand wird hier gezwungen, Bücher von Autoren zu lesen, die von irgendeinem Kultusministerium mal einem Kanon zugeordnet wurden. Niemand muss Gedichtanalysen schreiben oder sich anstrengen, besonders klug klingende Dinge zu sagen. Es geht einfach darum, zusammen ein wenig Spaß zu haben – und dabei vielleicht sogar noch etwas aus den Büchern, die wir lesen, für unser Leben zu lernen. In fiktionale Geschichten einzutauchen muss nämlich gar nicht bedeuten, sich aus der Realität zu entfernen. Nicht umsonst wurde im Frühjahr 2020 vermehrt Literatur über Epidemien gelesen. In jeder noch so fantastisch klingenden Welt kann ich Parallelen zu meinem eigenen Leben finden.
Natürlich wirkte das im Deutschunterricht in der Schule nicht so. Aber damals wurde ich ja auch gezwungen, Bücher von längst verstorbenen Autoren mit besonderer Vorliebe für Schachtelsätze zu lesen. In meinem Lesekreis sagt uns aber zum Glück kein Lehrer, womit wir uns auseinanderzusetzen haben. Wir können gemeinsam aussuchen, worauf wir Lust haben und dann darüber sprechen, was uns wirklich interessiert. Nicht über Themen, die uns ein längst überarbeitungswürdiger Lehrplan vorgibt. Wir können uns darüber austauschen, was wir beim Lesen gefühlt haben, ohne in vorgegebenen Analyseschemata zu denken. Wir können uns über die Figuren aufregen, uns ihnen nah fühlen, sie versuchen, zu verstehen.
Außerdem ist ein Lesekreis eine verdammt gute Ausrede, um mehr zu lesen. Zwischen all den Erledigungen, die auch im Lockdown nicht weniger werden, kommt das oft zu kurz. Aber für einen Lesekreis, in dem ich die Regeln mitbestimmen kann, bin ich viel motivierter, mir Zeit dafür zu nehmen. Zeit, die ich ohne schlechtes Gewissen genießen kann, denn immerhin mache ich gerade meine „Hausaufgaben“! Ich werde also quasi nebenbei dazu gezwungen, auch ein bisschen Self Care zu betreiben.
Ein Lesekreis gibt mir also gleichzeitig Zeit für mich und wertvolle Zeit, die ich mit anderen nach meinen Wünschen gestalten kann. Anhand der Bücher, die wir lesen, können wir uns über unsere Sorgen und Ängste austauschen und auch über Utopien für die Zukunft nachdenken. Es wird also höchste Zeit, den Begriff „Lesekreis“ zu entstauben und ihn von den zahlreichen Klischees zu befreien. Gründet euren eigenen Lesekreis! Er kann euch vielleicht genau das bieten, was ihr gerade braucht.
Super! Ich freue mich über jeden Artikel über Lesekreise. Angestaubt? Wie Veronika schreibt, kommt es darauf an, was man daraus macht! Trefft Euch online, diskutiert auf Instagram oder Facebook, gründet einen Fantasy-Lesekreis oder besprecht Krimis. Hauptsache, Ihr habt Spaß und lest mal wieder.
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