Es gibt auf der einen Seite die Gläubigen, auf der anderen Seite die Ungläubigen. Richtig? An dem einen Ende des Spektrums stehen diejenigen, die Gott anhimmeln. Die, deren Leben geleitet wird durch die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft. Am anderen Ende befinden sich die Menschen, die all das in ihrem Alltag einfach nicht brauchen. Die Ungläubigen, die einfach vor sich hin existieren. Dazwischen: eine klare Trennlinie.
Lange Zeit dachte auch ich ungefähr so. Ich war der Meinung, dass ich das, was gläubige Menschen da in ihren Gottesdiensten anstellten, einfach nicht verstehen kann. Ihre Rituale und die Art, wie sie ihr Leben führen, gingen mich als nicht gläubige Person einfach nichts an. Nicht, dass ich nicht mit religiösen Menschen zurechtkam – ich war und bin mit einigen gut befreundet. Über das, was sie über diesen Teil ihres Lebens erzählten, zuckte ich jedoch regelmäßig nur mit den Schultern. Ich dachte: „Nicht meine Welt. Zu weit weg von meinem Alltag.“ Ich konnte und wollte diesen Gott, der für sie existierte und für mich eben nicht, einfach nicht verstehen. Aber ist religiöser Glaube wirklich so weit entfernt von dem, was mein Leben ausmacht?
In seinem 2020 erschienenen Buch „The power of ritual“ fragt der Theologe und Podcaster Casper ter Kuile nach der Rolle, die Glaube und Rituale im Leben von atheistischen Menschen spielen können. Es geht ihm vor allem darum, zu untersuchen, welche Alternativen sie zu Zusammenkünften wie Gottesdiensten oder Ritualen wie dem Beten suchen und finden. Sein Ausgangspunkt: die Einsamkeit der Menschen in einer zunehmend digitalisierten und säkularisierten Gesellschaft.
Ter Kuile argumentiert in seinem Buch, dass wir alle, religiöse und nicht religiöse Menschen, ein ähnliches Bedürfnis nach Gemeinschaft und einer spirituellen Auseinandersetzung mit uns und der Welt besitzen. Nur, dass gläubige Menschen eben einen festen Platz dafür in ihrer Glaubensgemeinschaft finden. Und Atheisten? Wenn man ter Kuile glaubt, finden Nichtgläubige die Befriedigung dieses Bedürfnisses überall anders. Ein Beispiel, das er anführt, ist CrossFit. Für viele Menschen, die der Autor für einen wissenschaftlichen Aufsatz befragt hat, ist es mehr als nur Sport. Sie kommen zum CrossFit zusammen – bleiben danach aber noch für die Drinks. Sie ermutigen einander, ihre Lebensziele zu verfolgen, und trauern gemeinsam. Die Trainer können sogar als eine Art Priester verstanden werden, die die Gemeinschaft zusammenhalten und den „Gläubigen“ wichtige Messages mit auf den Weg geben.
Wenn ich darüber nachdenke, woran ich eigentlich an Stelle von Gott glaube, ist mein erster Gedanke: Bücher. Nicht, weil ich einen Schrein für mein Lieblingsbuch gebaut habe, für das ich jeden Morgen eine Kerze anzünde. Sondern weil ich die Menschen, die meine liebsten Bücher geschrieben haben, verehre. Ich folge ihnen auf allen Social-Media-Kanälen und lechze nach jedem neuen Wort, das sie teilen. Ich glaube, dass ich etwas von ihnen und der Beschäftigung mit ihren Büchern für mich und mein Leben lernen kann. Und wenn sie einen Shitstorm erleiden, fühlt sich das wie ein persönlicher Angriff auf mich an. Die Frage ist, was Glauben eigentlich ausmacht. Ist es der Bezug zu einer übernatürlichen Figur, die angehimmelt werden kann? Ist es der Glaube an eine Gemeinschaft, deren Teil ich sein kann und die mich inspiriert, ein besserer Mensch zu werden? Und sind all das nicht Dinge, nach denen wir alle streben? Casper ter Kuiles Antwort ist: die Intention.
Glaube und Gemeinschaft seien im Leben eines jeden Menschen präsent. Ob es der Glaube an die Lieblingsmarke oder an den eigenen Fußballverein ist. Was den Unterschied mache, sei die Intention dahinter. Im Kern geht es darum, den Blick auf etwas Bestimmtes zu richten und es mit allen Sinnen aufzunehmen.
Der Autor von „The power of ritual“ hinterfragt dabei auch sein eigenes Bedürfnis nach Spiritualität, das er lange Zeit als zu verworren mit einem christlichen Glauben betrachtet hat. Dem christlichen Glauben, der ihn als schwulen Mann vielerorts noch immer ausschließt. Inzwischen kann er dennoch sein Bedürfnis nach Introspektion im Gebet ausleben. Nicht etwa, indem er einen Gott oder seinen liebsten Influencer anbetet. Sondern indem er sich verschiedene Themen aus seinem Alltag vornimmt und sich gedanklich mit ihnen auseinandersetzt. Das Gebet zu Gott sei schließlich auch nichts anderes als eine Art Selbstgespräch, um sich wieder auf die eigenen Wertvorstellungen zu besinnen. Er lädt jede Person dazu ein, sich religiöse Praktiken bewusst vorzunehmen und etwas daraus zu basteln, das für unsere Zwecke besser passt. Klingt interessant. Und wenn ich es so betrachte, dann bete ich selbst auch. Vielleicht sogar täglich. Indem ich mir beim Yoga Zeit für mich nehme. Indem ich mir ein Thema vornehme, das mich beschäftigt und ein Gedicht dazu schreibe, um zu einer Antwort zu kommen.
Ter Kuile konnte das natürlich nicht vorausahnen – aber gerade in der Zeit des Erscheinens seines Buches im Juni 2020 waren mehr Menschen denn je auf der Suche nach neuen Arten des Zusammenkommens. Die Corona-Pandemie hatte uns alle plötzlich dazu verdammt, uns auf so wenig persönliche Kontakte wie möglich zu beschränken. Ich zum Beispiel habe in der Zeit einen Online-Lesekreis gegründet. Gehöre ich jetzt also auch einer religiösen Gemeinschaft an? Vielleicht. Jede zweite Woche sprechen wir anhand eines Kapitels aus einem Buch über ein Thema wie Verantwortung, Zusammenhalt oder Erwartungen. Dabei tauschen wir uns auch über ganz persönliche Dinge aus. Vor der Diskussion liest eine Person ein Zitat vor, zu dem wir uns alle zwei Minuten lang stillschweigend Gedanken machen. Vielleicht ist das unsere Art des Gebets. Vielleicht bedeutet Glauben also einfach: mir klarmachen, warum ich Dinge tue. Eine Richtung für mein Leben suchen. Und vielleicht tun wir das alle, ob streng religiös oder nicht.
Text: Pierre Hofmann, 26, liebt Bücher mehr als Gott, hat aber (leider) keinen Schrein für sein Lieblingsbuch.