19 Uhr. Der Saal riecht nach Kakao und Keksen. Das Licht ist gedimmt. Um die Tischtennisplatte rennen David, Roni und Fabian. Sie sind Mitglieder von Chosen, einer jungen Gemeinde der evangelischen Freikirche in Essen. Im Saal des Gemeindehauses stehen Spaß und Glaube auf dem Programm. An der Wand: ein großes Kreuz. Jeden Freitag treffen sich hier junge Gläubige: Sie spielen, lesen aus der Bibel und schauen Filme zusammen. Hailey kommt aus Texas und studiert seit drei Monaten Theologie in Essen. Was ihr hier als Erstes aufiel: „Der Glaube ist hier in Deutschland sehr privat. Du redest hier nicht mit Freunden oder Unbekannten darüber. In Amerika ist es normaler, solche Gespräche zu führen.“ Das müsse aber nicht bedeuten, dass die Menschen dort eine echtere Beziehung mit Gott führen würden. Im Gegenteil, sagt Hailey: „Die Beziehung dort ist relativ oberflächlich. Du bist einfachso aufgewachsen, du nennst dich Christ. Aber eine echte Verbindung ist das nicht.“ Für sie sei Glaube wie eine Beziehung, in der sie Zeit mit Gott verbringt. Geholfen habe er ihr auch schon – in der dunkelsten Zeit in ihrem bisherigen Leben. „Ich hatte keinen Bock mehr auf das Leben“, erinnert sich die 25-Jährige.
Die junge Gemeinde der evangelischen Freikirche in Essen
trifft sich regelmäßig im Saal des Gemeindehauses.
Religion ist nicht gleich Kirche, Glaube nicht gleich Religion
Der evangelische Theologe Friedrich Schweitzer trennt die Begriffe Kirche und Religion. Laut ihm ist die Bedeutung von Religion bei jungen Menschen sehr individuell zu betrachten. Das Ergebnis seiner Studie (siehe kommende Seite) habe er nicht erwartet: „Viele Jugendliche bezeichnen sich selbst als gläubig. Das hat mich etwas überrascht, weil das eher traditionell und altbacken klingt.“ Religiös zu sein verbinden sie dagegen stark mit der Kirche und „damit fangen die Leute nicht so viel an“, stellt Schweitzer fest.
Was Jugendliche im Glauben suchen würden, seien Sinn und Orientierung im Leben, einen Anker und Gesprächspartner. Die persönliche und individuelle Verbindung zu Gott sei laut dem Theologen sogar stärker ausgeprägt als in den früheren Generationen. Die Beziehung zur Institution Kirche dagegen eher weniger. Er teilt Haileys Wahrnehmung: Glaube wird nicht mit anderen geteilt, sondern findet im privaten Raum statt. Die Kirche spielt dabei eine sehr kleine Rolle. „Für Jugendliche gibt es wenige Partizipationsmöglichkeiten. Das, was dort angeboten wird, nehmen sie nicht als attraktiv wahr“, so Schweitzer.
Im Jahr 2018 untersuchte die Universität Tübingen das Verhältnis von Jugendlichen zum Glauben. Damals machten 7.200 Elft- und Zwölftklässler sowie Auszubildende aus Baden-Württemberg mit. Im Rahmen eines Fragebogens oder eines Einzelinterviews gab es Fragen über die persönliche Vorstellung von Gott, Glaubensgespräche mit den Eltern und die Wahrnehmung der Institution Kirche. Evangelische, katholische, freikirchliche, muslimische und konfessionsfreie Teilnehmer gaben ihre Stimme ab. Besonders aufgefallen ist die Zahl der jungen Menschen, die regelmäßig beten: Drei von vier Jugendlichen gaben an, das zu tun.
Der moderne Glaube
Und wie sieht Glaube in der Online-Welt aus? 3.600 Ergebnisse liefert Instagram, wenn wir den Hashtag „Christfluencer“ eingeben. Der bekannteste Christfluencer weltweit macht hauptberuflich Musik, verkauft skurrile Mode und veranstaltet Flugzeug-Gottesdienste: Von keinem anderen ist die Rede als von Kanye West. Er selbst bezeichnet sich sogar als Künstler, der für Gott arbeitet. Auch im deutschsprachigen Raum gibt es viele Accounts mit großer und kleiner Reichweite, die sich mit dem Glauben beschäftigen. Die einen verbinden in ihrem bunten Instagram-Feed „Faith“ und „Travel“ oder sprechen über Nachhaltigkeitsthemen und Glauben, die anderen posten Bilder mit Sonnencreme-Kreuzen auf dem Rücken. Ist das der moderne Glaube?
Ich liebe Jesus so sehr, dass ich bestimmte Dinge nicht tue.
Rose de Jesus hat fast 6.000 Follower auf Instagram, ihre Bilder über 1.000 Likes. Sie rappt und singt über Gott, spricht mit anderen gläubigen Menschen und hat ihre eigene Schmuckkollektion. „Ich glaube, weil ich selber Gott erlebt habe und ihm begegnet bin“, erklärt die Christfluencerin. Sie bestätigt Schweitzers These: Im Glauben sucht sie vor allem Antworten auf ihre Fragen und wird fündig. „Jesus kennt uns viel besser, als wir uns kennen, er zeigt uns, was gut für uns ist und was nicht. Ich liebe Jesus so sehr, dass ich bestimmte Dinge nicht tue“, beschreibt sie ihre Beziehung. Und diese Beziehung steht im Mittelpunkt ihres Lebens. „Wenn ich durch die Wohnung gehe, rede ich immer mit ihm, weil ich weiß, dass er da ist“, erklärt sie. „Wenn ich meinen Schlüssel verliere, frage ich Jesus.“
„Wir werden eine krasse Erweckungswelle erfahren“
In ihren Videos und Bildern gibt Rose den Usern Einblicke in ihren Alltag. Ihr Ziel sei es nach eigenen Angaben, Menschen zu zeigen, dass es jemanden gibt, der sie über alles liebt. Ihr Business mit dem Glauben läuft gut. Den Begriff „Influencer“ möge sie jedoch nicht, weil er mit Werbung und Codes assoziiert wird: „Es hört sich so an, als würde ich aktiv Menschen mit Jesus beeinflussen wollen. Ich möchte schon, dass Menschen Jesus kennenlernen. Was ich aber auf meinem Profil mache, ist mein Herz zu teilen. Ich sehe mich als Rose, ich bin Gottes Kind.“
Die meisten christlichen Freunde habe ich über Social Media kennengelernt.
Menschen folgender Religionszugehörigkeit leben in Deutschland:
- 23,3 Millionen Katholiken
- 21,5 Millionen Evangelen
- 2,7 Millionen Muslime
- 270.000 Buddhisten
- 100.000 Juden
- 100.000 Hinduisten
Quelle: Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst e. V. – REMID
Früher war sie ein großer Overthinker, der Glaube brachte ihr Ruhe und Sicherheit in ihr Leben. Gott habe alles in der Hand, ist sich Rose sicher. Auf TikTok erlebe sie eine Art Erweckung: „Immer mehr junge Menschen sind auf der Suche nach dem wahren Sinn, gerade durch die ganze Identitätskrise. Ich merke, wie viele zu Gott finden.“ Einen „modernen“ Glauben gebe es Rose nach jedoch nicht, Gott und Glaube seien ewig und unveränderbar. Die sozialen Medien, in denen auch Rose aktiv und präsent ist, stehen immer öfter in Kritik: Fake-Filter, die Unsicherheiten produzieren, Cybermobbing, Hate-Kommentare und Nachrichten. Rose findet aber, die sozialen Medien können auch Themen wie Glauben und Freundschaft fördern: „Es entstehen Beziehungen. Die meisten christlichen Freunde habe ich über Social Media kennengelernt.“ Für die Menschen, die in keiner Kirche sind, keine Gemeinde oder Freunde haben, hat die junge Gläubige einen Discord-Server ins Leben gerufen – also einen privaten Instant-Messaging- Dienst: „Wenn wir unsere Struggles teilen, unser Herz, dann fördert es enorm den Glauben.“
Das Geschäft mit dem Glauben
„Believe“-Kollektionen mit Ketten, Armbändern und T-Shirts, die gläubige User ansprechen sollen, sind auf Instagram keine Seltenheit. Darf man aus moralischer Sicht mit Gott und Glauben wirklich Geld verdienen? „In der Christian Bubble gibt es Christen, die sagen, das ist total schlecht, wenn man mit Gott Geld macht", erklärt Rose. Für die Influencerin, die selbst ein Business führt, sind die Vision und die Haltung am wichtigsten: „Ich habe einen Online-Shop für Schmuck und möchte damit Gottes Namen groß machen.“ Über die Kreuzkette oder das Armband komme man schnell ins Gespräch mit anderen Gleichgesinnten, begründet sie ihre Entscheidung.
Theologe Schweitzer äußert Bedenken zum Thema Christfluencer: „Die Frage ist, ob das richtig ist, irgendwelche Menschen auf diese Art und Weise zu beeinflussen. Viele, gerade im pädagogischen Bereich, finden das problematisch, wenn Produkte für Konsum und Kommerz durch Influencer transportiert werden. Und wenn man liest, welche Verdienste erfolgreiche InfluencerInnen haben, dann kommt man doch da sehr ins Nachdenken. Sollte sich eine Religionsgemeinschaft solcher Methoden bedienen? Da kann man große Fragen stellen.“
Die junge Gemeinde kommt regelmäßig zusammen, um sich
auszutauschen, gegenseitig zu unterstützen, Freundschaften
zu pflegen und einfach eine schöne Zeit zu verbringen.
Hilal ist Muslimin. Für sie spielt Social Media auch eine große Rolle. Als Userin folgt sie Instagram-Seiten von islamischen Priestern. „Ich finde jedoch, dass die sozialen Medien etwas toxisch sind, wenn es um Religion geht. Es existiert inzwischen der Begriff ‚Haram Police‘, weil man es im Netz niemandem recht machen kann“, beschreibt die 21-Jährige das Dilemma. Jeder glaubt etwas anders und das werde im Internet nicht gerne gesehen. Sie rät dazu, beim Thema Islam Instagram nicht zu nutzen. Hilals Freundeskreis ist bunt gemischt: Atheisten, Katholiken und Evangelen zählen zu ihren engsten Freunden. „Ich habe tolle Leute um mich herum, die es gar nicht interessiert, woran ich glaube.“ Für sie bedeutet Glaube Hoffnung. Ähnlich wie Rose und Hailey findet sie darin die Antworten, die sie braucht. „Glaube ist nicht etwas, woran ich denke, wenn der nächste Feiertag da ist, sondern das, was ich immer im Herzen trage, woran ich mich festhalte, wenn ich das Gefühl habe, meine Welt stürzt ein“, erzählt Hilal. Im Alltag versuche sie immer barmherzig und fair zu handeln, zuvorkommend anderen Menschen gegenüber zu sein, wie es der Islam verlangt. Dazu gehören auch das jährliche Fasten zum Ramadan und das Tragen eines Hijabs.
„Der Glaube ist für mich das Verhältnis zwischen mir und Allah. Jede Sünde, jede gute Tat, meine Fehler und meine Geheimnisse sind offen nur für Allah. Religion ist hingegen das, was Menschen mit der Zeit für sich geformt haben. Im Laufe der Jahrtausende wurde es angepasst“, beschreibt sie.
Ich finde, dass die sozialen Medien etwas toxisch sind, wenn es um Religion geht.
Wie sieht Glaube in Zukunft aus?
„Die Religionslandschaft wird immer vielfältiger, das liegt unter anderen am wachsenden Einfluss des Islam. Das gilt aber auch für andere Gruppen, die wir bisher oft übersehen, wie zum Beispiel orthodoxe Christen“, gibt Theologe Schweitzer als Prognose an. „Auch die Zahl der Konfessionslosen nimmt zu. Also derjenigen Menschen, die keine Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft für sich bejahen. Größere Vielfalt religiös, größere Vielfalt weltanschaulich.“
Text und Fotos von Noelia Sanchez Baron, 25. Sie glaubt nicht an Gott, hat bei ihrer Recherche aber viele neue Sichtweisen zu Gott entdeckt.