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Sexuelle Gewalt: Manche Jugendliche kennen die Grenzen nicht

Der Fall Ameland hat gezeigt: Sexuelle Gewalt geht nicht immer nur von Erwachsenen aus. SPIESSER-Autor Birk spricht mit einem Experten über sexuelle Übergriffe unter Jugendlichen.

14. October 2010 - 15:28
von SPIESSER-Autor Birk Grüling.
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Birk Grüling Offline
Beigetreten: 23.03.2010

Zur Person

Gerd Kuznik ist leitender Psychologe des Kinderkrankenhauses auf der Bult in Hannover. Sein Arbeitsschwerpunkt ist die Behandlung von Kindern und Jugendlichen nach traumatischen Erfahrungen.

In der U-Bahn auf dem Weg zum Interview sehe ich ein junges Paar in der U-Bahn. Der Junge klatscht seiner Freundin mit der flachen Hand hart auf den Po und zieht sie beim Aussteigen grob hinter sich her. Ist das vielleicht nur eine Ausnahme oder doch Alltag? Wie kann es eigentlich zu sexueller Gewalt unter Jugendlichen kommen?

Eine Frage, die Gerd Kuznik beantworten kann. Der Psychologe kennt sich aus mit traumatische Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen: „Sexuelle Gewalt unter Jugendlichen kommt sowohl in der Beziehung als auch außerhalb vor. Außerhalb einer Beziehung wird dies oft schneller deutlich. Häufig wird sie von Jugendlichen ausgeübt, die in ihrem Aufwachsen gelernt haben, dass Sexualität eine immens große Rolle spielt. Ihnen wird dabei häufig durch die Eltern oder auch durch bestimmte Filme vermittelt, dass Sex und Macht sehr stark zusammengehören.“

Gerade Jugendliche kennen ihre Grenzen noch nicht

Schlechte Vorbilder, teils durch die Medien vermittelt, und die große Bedeutung der Pornografie für viele Jugendliche – diese beiden Gründe finden sich in jeden Zeitungsartikel. Doch warum kommt es zum sexuellen Übergriff? „Es entsteht ein Gefühl, etwas ausprobieren zu müssen, um sich selbst stark zu fühlen, und dabei werden häufig Grenzen überschritten. Wie stark das passiert, hängt immer davon ab, wie sehr der Jugendliche selbst Grenzüberschreitungen durch Vorbilder wahrgenommen hat, sei es durch Eltern oder Freunde“, erklärt Kuznik. Doch wo genau liegt die Grenze zwischen normaler Sexualität und sexueller Gewalt? „Sexualität kann auch durchaus wild und hart sein, wichtig ist dabei, dass beide es wollen und genießen.

Kennt ihr euch aus?

Wisst ihr wie man sich in unangenehmen Situationen richtig verhält? Testet euch selbst im „Nein heißt Nein“-Quiz.

Sobald ein Partner sich unwohl fühlt und das auch zum Ausdruck bringt, fängt es an grenzwertig zu werden.“ Bei sexuellen Begegnungen könne es durchaus vorkommen, dass der eine den anderen zu etwas überredet, dem der andere skeptisch gegenüber steht. Doch auch da gebe es laut Kuznik einen großen Unterschied: „Klar, gibt es solche Situationen, in denen man überredet wird. Aber sobald Gewalt und Bedrohung im Spiel ist, sei es nun verbal oder körperlich, wird es sehr kritisch.“ Sätze wie „Ich mache Schluss“ oder „Wenn du das nicht machst, passiert dir etwas“ sind dann so bedrohlich, dass hier von einer verbalen Gewalt gesprochen werden kann.

Man muss klar NEIN sagen 

Nein heißt Nein!

Jugendliche, die Opfer von sexueller Gewalt geworden sind, können sich auf „Nein heißt Nein“ kostenlos beraten lassen. Es gibt Diskussionsforen, ein Forum für Mädchen, ein Forum für Jungen, einen Themenchat, Einzel-Chat-Beratung, Umfragen, Tests und Tipps.

Diese Gewalt wird am häufigsten durch Jungs ausgeübt. Das belegen Statistiken und das kann auch Gerd Kuznik bestätigen. Doch wie können sich körperlich unterlegene Mädchen gegen Drohungen oder Übergriffe wehren? „Die beste Prävention ist die Aufklärung. Es ist immens wichtig, dass die Eltern mit ihren Kindern darüber reden. Sexualität ist etwas sehr Schönes und gerade deshalb muss ein hohes Maß an Selbstbestimmung entwickelt werden“, antwortet der Psychologe. Gerade archaische Klischees wie, dass der Mann die Sexualität vorgibt und die weibliche Seite der männlichen unterworfen ist, haben bei intimen Begegnungen nichts zu suchen.

Darum lautet die wichtigste Botschaft: „Dein Körper gehört dir und man darf klar NEIN sagen.“ Hat man diese Haltung für sich angenommen, kann das in der Beziehung Schutz geben. Kuznik: „Aussagen, wie ‚Dann bist du nicht mehr meine Freundin’ können mit einem starken Selbstbewusstsein abgefangen werden. Wenn dein Partner, dich so stark unter Druck setzt, ist er vielleicht nicht der Richtige für dich“. Und: „Wir Menschen wissen eigentlich ganz schnell, ob wir etwas wollen oder nicht. Wenn Angst oder gar Ekel aufkommen, dann zeigen wir das auch. Gerade am Anfang der Sexualität ist natürlich nicht jede Unsicherheit eine Grenze.“ Stellt man sich also selbstkritisch die Frage, was man selbst wollen würde, sensibilisiert das auch für die Gefühle des Partners.

Der Mensch hat starke Verdrängungsmechanismen

Liest man in Medienberichten von sexuellen Übergriffen von oder an Jugendlichen, wird eines schnell klar: Die Opfer werden kaum geschont, sie werden ins Rampenlicht gezerrt und wenige Wochen nach der Tat verliert sich das Interesse. Die Folgen können sehr verschieden sein. „Es beginnt vielleicht damit, dass jemand ständig zu etwas überredet wird, was er oder sie gar nicht will. Im besten Fall trennt er sich von dem Partner, im schlimmsten Fall wird er unterwürfig und verliert jeden Widerstand. Das heißt aber noch lange nicht, dass ein Therapeut aufgesucht wird. Pathologisch wird es vor allem dann, wenn jemand mit Gewalt dazu gezwungen wird. Es kann hier zu posttraumatischen Reaktionen kommen, in Form von starken Ängsten oder das ein Gefühl von Wertlosigkeit in der Person aufkommt. Das geht sogar bis zum Ekel vor der eigenen Person“, weiß Kuznik.

Der Verlust des Gefühls zur eigenen Sexualität und posttraumatische Angstzustände sind weitere Folgen. Je jünger dabei die Opfer sind, desto eher haben die schrecklichen Erfahrungen auch prägende Auswirkungen aufs weitere Leben. Zusätzliche Traumata führen dann zu noch schlimmeren Auswirkungen. Die Schuld bei sich selbst zu suchen, ist eine häufige Reaktion von Opfern. „Man realisiert schon, dass etwas ganz Schlimmes passiert ist, aber man gibt sich selbst die Schuld dafür. Die Opfer sehen das Verbrechen an sich als eine Art Strafe für mögliches eigenes Fehlverhalten.“ Diese innere Einstellung zu lösen, sei die schwerste Aufgabe für eine Therapie, sagt Kuznik

Die Anzeige ist ein schwerer Schritt
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Sexuelle Gewalt

Wir haben die psychologische Leiterin von Power-Child e.V. Ulrike Herle interviewt. Sie berät Jugendliche, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind. >> Zum Interview
Außerdem schreiben Jugendliche auf SPIESSER.de ihre Gedanken und Erfahrungen zu sexuellen Übergriffen nieder. >> Zu den Erfahrungsberichten

Sexuelle Gewalt ist strafbar, dennoch kommt nicht jeder Fall zur Anzeige. Die Angst, die Qualen des Übergriffs noch einmal zu erleben, ist einfach zu groß. Die Aussage bei der Polizei ist für viele Opfer in ihrer subjektiven Wahrnehmung häufig schlimmer als das Geschehene selbst. „Das liegt an den guten Verdrängungsmechanismen unseres Körpers“, begründet Kuznik. „Die Erlebnisse werden durch physiologische Prozesse und die Psyche so gut verdrängt, dass sie für einen gewissen Zeitraum ausgeblendet werden können. Durch die Aussage bei der Polizei wird das Verdrängte wieder präsent und alles kommt wieder hoch“, erklärt Kuznik. In dieser Phase kann das Erlebte oft nicht noch einmal verdrängt werden. Diesen Moment nimmt das Opfer noch einmal sehr bewusst wahr.

Autor: Birk Grüling

Was hat der Fall Ameland bei euch ausgelöst? Auf der niederländischen Insel kam es im Juli zu sexuellem Missbrauch und Quälereien unter Jugendlichen. Sagt uns eure Meinung (dazu müsst ihr registriert und angemeldet sein)!

Power-Child e.V.

Dieser Beitrag entstand in Zusammenarbeit mit Power-Child e.V.

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Kommentare

14 Kommentare
  • na da freu ich mich doch XD

  • ok?

  • Undurchsichtig ist interessant. Und interessant ist immer etwas gutes.

  • Je nach Situation z.B. was sie nicht sagen wollen, oder eigentlich sagen wollten.

  • lieste denn so

  • ist das jetz positiv oder negativ?!
    ja, die die einfach alles mit sich machen alssen ohne wenn und aber... find ich langweilig =(

  • Nein, du bist etwas zu undurchsichtig für mich^^
    Ja, das sind sie. Sind nach meiner Erfahrung die, die zu nett sind.

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