Mittagspause mit ...

„Das Menschenbild muss sich einfach ändern“

Die Tafel Deutschland unterstützt seit Jahresbeginn über zwei Millionen armutsbetroffene Menschen mit Lebensmitteln. Das sind 50 Prozent mehr Menschen als im vorherigen Jahr. Schuld sind die aktuellen Krisen. SPIESSER-Autorin Frieda hat mit den Geschäftsführern Sirkka Jendis und Marco Koppe im Tafel-Dachverband in Berlin über die aktuellen Herausforderungen für die Tafel gesprochen.

05. September 2022 - 12:16
SPIESSER-AutorIn freedy.beedy.
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Beigetreten: 01.08.2017


Marco Koppe…
ist studierter Sozialmanager und Sozialarbeiter. Er
hat 2014 bei der Tafel als Referent für Bildung be-
gonnen und das Bildungsprogramm zum Bundesfrei-
willigendienst aufgebaut. Außer dem ist der 38-
Jährige seit 2019 Geschäfts-führer der Tafel-Akade-
mie gGmbH und seit Juli 2021 Geschäftsführer des
Tafel Deutschland e.V.
Seid ihr als Geschäftsführer der Tafel Deutschland selbst ehrenamtlich aktiv bei den Ausgabestellen?

Marco Koppe: Wir besuchen im Jahr ganz viele Tafeln, um mit den Tafel-Leitungen im Gespräch zu bleiben. Und sind auch immer mal wieder selbst aktiv. Uns ist es ganz wichtig,
als Geschäftsführung nah an der Arbeit der
Tafeln zu sein.
Sirkka Jendis: Ich habe erst vor Kurzem ein
„Tafel-Praktikum“ gemacht, wie alle hauptamtlichen Mitarbeitenden bei uns. Ich war in der Ausgabestelle in Berlin-Neukölln, habe Lebensmittel sortiert und war auch für zwei Tage auf der Abholtour dabei.
Wir glauben, dass wir unsere Arbeit besser machen können, wenn wir auch regelmäßig an der Basis arbeiten.

Wir freuen uns über jede helfende Hand, egal in welchem Alter.

Welche beruflichen Möglichkeiten bietet die Tafel denn jungen Menschen?

Marco: In unserem Dachverband in Berlin sowie in größeren Tafeln bieten wir diverse hauptamtliche Jobs an. Schülerinnen und Schüler können sich in Projekten und Arbeitsgemeinschaften ausprobieren. An einzelnen Unis in Deutschland kann man das Service-Learning-Modell studieren und den Berufseinstieg bei der Tafel ebnen. Außerdem gibt es das Projekt der Tafel Jugend für junges Engagement unter 30 Jahren. Wir freuen uns
über jede helfende Hand, egal in welchem 
Alter. Für unsere Zukunft ist die Digitalisierung definitiv eine Herausforderung, um die Tafel effizienter, ressourcenschonender und nachhaltiger zu gestalten.
Sirkka: Das Digitalisierungsprojekt „TMZ– Tafel macht Zukunft“ wird von ehrenamtlichen Digital Coaches unterstützt, die uns helfen, digitale Projekte in der Tafel zu verankern.

Inwiefern hat sich die Nachfrage an die Tafel durch die Inflation und den Krieg in der Ukraine geändert?

Marco: Nach zwei Jahren der Pandemie sind unsere Ehrenamtlichen erschöpft. Am Anfang des Jahres hatten wir die Hoffnung, dass sich die Lage bessern wird, aber dann kamen der Angriffskrieg und die Inflation. Wir merken, dass für viele Menschen ihr zur Verfügung stehendes Geld nicht mehr ausreicht. Unsere Kundenzahl hat sich allein durch die Inflation erhöht.
Sirkka: Allerdings haben wir nicht mehr Lebensmittel zur Verfügung und uns fehlen die Ehrenamtlichen.

Gibt es seit der Inflation mehr Studierende, die das Angebot der Tafel nutzen?

Marco: Das können wir aktuell noch nicht abschätzen. Allerdings haben wir in den letzten fünf Jahren mehr Studierende als Kundinnen und Kunden bei der Tafel. Viele wussten bisher nicht, dass sie auch bezugsberechtigt sind.

Wie kann ich prüfen, ob ich bezugsberechtigt bin?

Marco: Jede Tafel führt eine Bedürftigkeitsprüfung durch. Man registriert sich bei seiner Tafel vor Ort und wird entsprechend geprüft. Die Tafeln sind Orte der Begegnung und wir möchten die Menschen kennenlernen, die unsere Angebote nutzen. Eine digitale Anmeldung ist nicht möglich. 

Gibt es regionale Unterschiede bei der Nutzung der Tafeln?

Sirkka: Ich würde sagen, das verändert sich: Zu Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine kamen viele Menschen nach Berlin und in die großen Städte, entsprechend war dort die Nachfrage nach Lebensmitteln höher. Nun haben sich die Menschen deutschlandweit verteilt und wir unterstützen in allen Tafeln geflüchtete Menschen. Vor allem in den Großstädten
gibt es mehr Armut, aber auch mehr Anonymität. Vor allem die Anonymität ermutigt mehr Menschen, zur Tafel zu gehen. In kleinen Dörfern und Gemeinden ist die Scham oft zu groß.
Marco: Ja, wir hören öfter von Tafeln in kleinen Gemeinden, dass der Satz fällt: „Wir brauchen keine Tafel bei uns, es gibt hier keine Armut.“ Aber das ist ein Trugschluss.

Armut muss weniger stigmatisiert werden.

Wird also Armut nicht immer als Armut wahrgenommen?

Marco: Es gibt die reale Armut mit der Armutsgrenze und die gefühlte Armut. Wir haben Tafel-Kundinnen und -Kunden, die arbeiten und deren Geld trotzdem nicht für Lebensmittel reicht.
Sirkka: Wir sind ein Zusatzangebot und wollen unterstützen. Das heißt, wir wollen auch ermöglichen, dass man bei uns Lebensmittel bekommt, damit man beispielsweise das Kind mal ins Kino schicken kann, weil das allein aufgrund des Einkommens nicht möglich wäre.

Weshalb fällt es Menschen immer noch schwer, zur Tafel zu gehen?

Marco: Im ersten Schritt ist es ein Hindernis, sich selbst einzugestehen, dass man Unterstützung benötigt. Leider ist unser Angebot immer noch mit einer gesellschaftlichen Stigmatisierung verknüpft.
Sirkka: Mich macht dieses Denken sauer, dass alle Menschen selbst schuld an ihrer Armut sind. Es gibt dazu einen großartigen Hashtag auf Twitter: #ichbinarmutsbetroffen.
Es begreifen aktuell immer mehr Menschen, dass sie selbst an der Armutsgrenze leben könnten. Ich finde, das Menschenbild muss sich ändern und Armut muss weniger stigmatisiert werden.


Sirkka Jendis …
ist seit Dezember 2021 Teil des Geschäftsführungs-
teams des Tafel Deutschland e.V. Sie ist Kommunika-
tionswissenschaftlerin, war langjährige Geschäfts-
führerin des Deutschen Evangelischen Kirchentages
und hat bei der ZEIT Verlagsgruppe u.a. die
Corporate­-Publishing­-Tochter Tempus Corporate
mitaufgebaut. Bei der Tafel widmet sich die 43-
­Jährige den Themen Kommunikation, Fundraising,
Digitalisierung und Logistik.

Wir wollen Lebensmittelverschwendung reduzieren.

Was sollte denn auf politischer und gesellschaftlicher Ebene umgesetzt werden, um die Tafel zu unterstützen?

Sirkka: Obwohl es viele Menschen bis heute denken: Wir sind keine staatliche Organisation.
Da der Staat seiner Versorgungspflicht nicht nachkommt, müssen wir den Menschen helfen.
Wir fordern immer wieder eine staatliche Unterstützung für den Bereich Logistik. Mit diesen Mitteln könnten wir viel mehr Lebensmittel von den Herstellern retten und die Lebensmittelverschwendung reduzieren. Ich bin begeistert, wie professionell unsere Abläufe bei der Tafel durch das Engagement unserer Ehrenamtlichen und Spenden funktionieren. Dafür müssen aber auch das entsprechende Geld und die Zeit da sein. Gleichzeitig fordern wir auch höhere Arbeitslosengeld­II­Sätze, damit weniger Menschen auf unsere Hilfe angewiesen sind.


Sirkka Jendis (rechts) und Marco Koppe
(links) bilden seit Dezember 2021 die neue
Doppelspitze des Verbandes der Tafel
Deutschland.
Bräuchten wir in Deutschland also ein Gesetz, das Lebensmittelverschwendung unter Strafe stellt?

Marco: Wir wollen Menschen helfen und die Lebensmittelverschwendung reduzieren. In über 50 Prozent der privaten Haushalte fällt Lebensmittelverschwendung an. Wir sind für ein Lebensmittelspendengesetz, das die gesamste Wertschöpfungskette in den Blick nimmt. Wir arbeitengut mit den Supermärkten zusammen,aber die machen nur 4 Prozent der Lebensmittelverschwendung aus. Die Herstellung und Produktion dagegen liegt bei 30 Prozent. Dafür muss es gesetzliche Regelungen geben. Dazu gehören auch Aufklärungskampagnen für Privathaushalte, um zu vermitteln, wie man Lebensmittelverschwendung vermeiden kann. Wir müssen die ganze Kette in denBlick nehmen: Von der Produktion über den Verkauf bis in den privaten Haushalt. Nur dann funktioniert es auch nachhaltig.

Sirkka: Wir fordern auch ein Lebensmittelspendengesetz nach einem Anreizmodell. Deutschland wird sein Ziel, bis zum Jahr 2030 die Lebensmittelverschwendung zu reduzieren, nicht erreichen. Mit einem Anreizsystem gibt es einen positiven Impact für die Hersteller und den Handel, wenn sie Lebensmittelverschwendung reduzieren. 

Text von Frieda Rahn, sie ist seit Jahren aktiv beim Foodsharing und würde gerne Containern legalisieren.
Fotos von Christian Schneider, Berliner Fotograf und Filmemacher.

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