Ständig sind wir Menschen in Bewegung, Zeit zum Philosophieren gibt es nicht mehr, das war früher. In kurzen Gesprächen mit unseren Mitmenschen, die zufällig in die gleiche Richtung hasten, messen wir uns und unsere Tätigkeiten. Dabei gilt stets das Prinzip „Quantität vor Qualität“. Jemand, der in diesen Duellen als weniger gestresst gilt, geniert sich sofort seiner Faulheit. Doch halt; ich entsinne mich, gelegentlich schlendernde, lachende Gestalten gesehen zu haben, gekleidet in den neuesten Prada und Louis Vuitton Outfits. Deren Einkäufe erledigen Angestellte, und trotzdem sind diese Personen nicht faul, denn ihr Vermögen ersetzt ihre Pflichten. Ein schlechtes Gewissen ist bei jenen nicht aufzufinden.
Und sofort erinnere ich mich bei diesen Gedanken wieder an die Schule. Das schlechte Gewissen unter Schülern ist unser tägliches Brot. Keine Hausaufgaben, zu wenig gelernt, zu wenig getan für die nächste Klausur. Oh, wie sind die Schüler faul! Zu Beginn jeder Mathestunde schallt uns der bekannte Satz unseres Lehrers entgegen: „So, schaffen wir mal was!“.
Nichts für die Schule zu tun, das heißt, sich nicht vorzubereiten auf die Unterrichtsfächer, das ist nicht gestattet und vor allem Gymnasiasten müssen das Prestige des fleißigen Schülers vertreten. Denn Nichtstun bringt scheinbar keine Ergebnisse und somit auch keine Zukunft, die wir auch wieder mit Tätigkeiten füllen müssen, um unser Ansehen in der Gesellschaft zu wahren.
Will ich das überhaupt? Kann ich denn nicht einfach für mich selbst leben und das tun, was ich möchte, zum Beispiel nichts?
Aber hier helfen unsere fürsorglichen Eltern nach und bringen uns auf den rechten Weg.
„Frau Groß, ihr Kind ist sehr faul, wir überlegen es diese Klasse wiederholen zu lassen.“ „Hören Sie, das ist nicht möglich. Wir haben eine Köchin, einen Gärtner und zwei Reinigungskräfte im Hause. Die Giorgio Armani Unterwäsche spricht auch für sich. Deshalb können Sie sich nur irren, mein Kind kann garnicht faul sein.“
Ein Tunicht(s)gut ist er also doch nicht.
Druck, das Gegenteil des Nichtstuns – Leistung. Sofort springt mich die täglich angewendete Physikformel an: Leistung ist gleich der Arbeit pro Zeiteinheit. An dieses Naturgesetz hält sich die gesamte Welt. Wir sind also ständig am Schaffen, um dieses preziöse Naturgleichgewicht mit möglichst hohen Zahlen schmücken zu können. Selbst Gott erschuf innerhalb von sechs Tagen die Welt, doch er ruhte auch! Wann ruht der Mensch? Am Sonntag, so sagt die vorletzte Generation, soll man ruhen, nicht arbeiten, nichts tun. So vergeht der eine, an sich wertvolle Tag mit Musik hören, fernsehen, chatten und ständig schaut man sich die Kommentare der Freunde und Freundesfreunde in Facebook an, um zu überprüfen, was sie denn gerade so tun. Die wahre, innere Ruhe findet man so allerdings nicht. „Möge er in Frieden ruhen.“ – ist das die einzige Möglichkeit, heute noch Ruhe zu finden? Ich hoffe nicht!
Die Nachtruhe sollte noch eine Möglichkeit der Ruhe im Reich der Lebenden darstellen. Doch sobald man unter die Decke gekrochen ist, erinnert man sich daran, dass in diesem Moment eine Person die andere Seite des Bettes besetzt. Nun hat man endlich Zeit, sich dieser fast vergessenen Person zu widmen. Und die Nachtruhe ist dahin. Nichtstun in dieser Situation wäre undenkbar.
Unsere Terminkalender sind vollgekritzelt mit hastigen Einträgen, unendlich viele Memos sind auf unseren Smartphones erstellt. Jene Smartphones, die durch piepsende Wecker an unsere Termine erinnern. Anstatt Mitleid mit solchen Menschen zu haben, die ihre umliegende Welt, zwitschernde Vögel, blühende Blumen, dösende Kaninchen im Park nicht wahrnehmen können, bewundert sie die Gesellschaft. Diese Menschen wurden versklavt, denn sie sind gebunden an ihre Tätigkeiten, wie Hunde an ihre Leine. Aber sogar mein Hund besitzt mehr Freiheit und darf im Haus und im Garten von den Ketten genommen werden. Die eisernen Ketten jedoch, an die unsere Geschäftsmenschen, unsere fleißigen Bienchen gekettet sind, kann kein Hammer zerschlagen. Denn fleißige Bienchen können nicht nichts tun, sie müssen immer in Bewegung bleiben, sie sind süchtig, abhängig von ihren Tätigkeiten. Haben fleißige Menschen durch ihre Leistung erst einmal eine bestimmte Position erreicht, setzen sie alles daran, diese nicht zu verlieren, denn ein Bienchen, das ein Tröpfchen seines tüchtig gesammelten Blütennektars verliert, wird vom gesamten Schwarm verachtet und verstoßen.
Und so werden weitere Termine vereinbart, gelegentlich auch mit Psychologen. Diese sollen uns helfen, unsere bereits überschrittene Leistungsgrenze noch höher zu setzen. Aber anscheinend verstehen uns die professionellen Ärzte nicht. Wir möchten nicht meditieren, nicht auf unsere innere Stimme hören! Für solches Nichtstun haben wir keine Zeit. Zudem leiden wir noch nicht unter Schizophrenie. Meine einzige Stimme ist diejenige, die mein Gesprächspartner am anderen Ende der Telefonleitung hört. Innere Stimme – was ist das? Ich denke, es ist das, was wir „Instinkt“ nennen. Der Instinkt ist nicht nur für tierisches Verhalten verantwortlich, er schützt uns auch. Zum Beispiel vor einer Überlastung des Körper und Geistes. Unser Schutzwall wird aber wegen der eigenen Erwartungen und der Erwartungen anderer nur zu oft ignoriert, bis er schließlich in irgendeiner dunklen Ecke unseres Tiefsten verschollen ist. Deshalb findet man mehr und mehr Psychologen umherlaufen, denn sie werden zunehmend in dieser Instinkt-freien Gesellschaft gebraucht. Um am Ende nicht zu sehr am Rad zu drehen (vielleicht steht man auch hier unter Leistungsdruck?), sorgen die Seelenklempner dafür, dass uns die Zeit, die wir für uns selbst, ohne äußere Einflüsse wie Musik und Medien brauchen, nicht vermissen.
„Ich finde zu mir selbst, indem ich nicht anderes tue, als mich auf mich selbst zu konzentrieren.“. Das ist der Leitsatz der Meditation, die wir oft von Psychologen empfohlen bekommen. Nein, kaufen wir uns lieber ein paar Packungen Psychopharmaka, am besten auf Vorrat. Auspacken – schlucken – nachtrinken, das spart Zeit. Nichtstun, oder in diesem Fall meditieren, können sich nur diejenigen Leisten, die ohnehin schon viel Zeit für sich haben, wie zum Beispiel die Prada-Menschen.
Ist also Nichtstun eigentlich nicht so schlecht, wie wir uns das ständig einreden? Sollten wir uns zu einer Gesellschaft entwickeln, die nichts tut? Wenn keiner aber etwas tut, das heißt, jeder sich nur mit sich selbst beschäftigt, so fehlt uns ein gesundes soziales Miteinander. Welches momentan aber auch nicht vorherrscht.
Es sollte also weder ständig geplant und gehandelt werden, noch, nie aus seiner faulen Haut herauszukommen. Ein erfülltes und gelassenes Leben ist das Ziel jedes Einzelnen. Dies ist nur durch eine harmonische Wechselwirkung zwischen Arbeit und Ruhe möglich.
Vor allem das Nützlichkeitsdenken, das wir so oft in Prüfungen, Einstellungstests oder Ähnlichem unter Beweis stellen müssen, sollten wir unter Kontrolle halten, um uns eine verdiente Ruhezeit zu gewähren. Genau wie der aktive Hamster regelmäßig zwischen Laufrad, Futterschale und Ruhehäuschen umhertapst, so müssen wir unseren gesunden Rhythmus zwischen Tun und Nichtstun finden.
Als wirklich lebender, erwachter Mensch lebt man, wenn man also die Wahl zwischen Tun oder Nichtstun selbstständig und bewusst trifft.
Es ertönen wieder grelle Schreie, doch es sind nun die meiner Mutter. „Auf geht’s! Du kommst zu spät, schnell!“ Ich schaue auf meinen Wecker, den Radiolärm immernoch im Hintergrund und die hellen Sonnenstrahlen, die nun direkt durch das Fenster in mein Zimmer scheinen. Tatsächlich, ich habe zu lange gedöst, zu lange über die Gesellschaft und ihre Probleme nachgedacht. Ich ziehe mich um, immernoch in Gedanken versunken. Es ist nun an der Zeit, nicht länger zu denken. Ich werde nun etwas tun, denn dann kann ich im Nachhinein den Genuss des Nichtstuns schmecken. In ungefähr vier Wochen werde ich die Prüfungen hinter mir haben, mein Abitur in der Tasche.
Das erste, was ich danach tun werde: Nichts. Ein erstrebenswertes Ziel, das man letztendlich nur erreichen kann, wenn man vorher viel getan hat, um die Begierde der fleißigen Biene in uns und die Erwartungen für den kurzen Zeitraum zu stillen.
Ich betrete die Klasse, kurz nach mir unser Mathelehrer – „So, Kinder, schaffen wir was!“