Brief an …

Brief an ... das Schubladendenken

SPIESSER-Autoren schreiben Briefe. Diesmal meldet sich Mademoiselle Jaune beim Schubladendenken zu Wort. Das ist an allem Schuld - oder?

04. February 2012 - 11:26
SPIESSER-Autorin Mademoiselle Jaune.
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Mademoiselle Jaune Offline
Beigetreten: 22.07.2009

Alt bekanntes Schubladendenken,

es ist mit dir wie mit all den anderen Lastern, die wir Menschen so für uns entdeckt haben – wir schwören dir immer wieder ab, und doch wird niemand von uns dich jemals wirklich los.

Dank dir urteilen wir über Menschen, die wir überhaupt nicht kennen. Die dicke Kuh von nebenan muss ja einfach komisch sein, wenn sie eh keine Freunde hat – und ein bisschen weniger Fast-Food würde ihr sicherlich auch mal gut tun. Und diese Memme, die wir neulich kennengelernt haben, hat wahrscheinlich noch nie mit echten Problemen zu tun gehabt.

Schwups, egal auf wen wir treffen, du bist schon zur Stelle. Dann öffnest du dein Sortiment: und es ist gewaltig! Es gibt große Schubladen mit den Hauptanklagen wie "dumm", "arrogant" oder "oberflächlich", die wiederum in noch kleinere Unterschubladen unterteilt sind. Arrogant lässt sich beispielsweise in „zu viel Geld“, „zu gut aussehend“, „falsche Selbsteinschätzung“ oder „schlecht erzogen“ unterteilen.

Wir ziehen an deinen Schubladen wie der Organist am Register, finden treffsicher diejenige, von der wir denken, dass sie am Besten zu unserem Gegenüber passt und stopfen es ohne Gnade hinein. Dabei wissen wir gar nicht, wie unsere Nachbarin wirklich ist, und können auch nicht wissen, dass die kleine Schwester der Memme im Rollstuhl sitzt.

Wenn wir die Zeit und die Möglichkeit, manchmal auch nur die Verpflichtung haben, einen dieser Menschen noch einmal genauer kennenzulernen, dann stellt sich dein Urteil oft als nicht zutreffend heraus. Wir bemerken, dass der Schnösel mit den blütenweißen Hemden eigentlich gar nicht so abgeklärt und möchtegern-erwachsen ist, wie wir immer dachten, sondern einen großartigen Sinn für Humor hat. Wir führen mit der aufgestylten Tussi, die wir schon seit unserer ersten Begegung als oberflächlich abgestempelt hatten, unvorhersehbar tiefgründige Gespräche. Wir verlieben uns in den Schlabberlook-Skater, obwohl wir unseren Eltern immer den perfekten Schwiegersohn vorstellen wollten – einfach weil wir bemerken, dass die inneren Werte wichtiger sind als der äußere Eindruck.

Denn eigentlich waren wir ja die Oberflächlichen. Und dann schwören wir dir ab – für immer, versteht sich! Wir verachten dich und glauben, endlich über dir stehen zu können. Wir erzählen der Welt voller Stolz, dass wir es geschafft haben, dich zu überwinden, dass wir von nun an jedem Menschen die gleiche Chance geben wollen, bis wir ihn richtig kennen. Und wir geben uns große Mühe!

Aber auf einmal kommt da dieser Neue in die Klasse mit Hochwasserhosen, schief hängender Brille, ausgewaschenem Pulli und nicht tief genug sitzendem Rucksack – und schwups! Da bist du wieder. Dein Urteil: langweiliger Computernerd. Und die Schublade schnappt zu.

Mit Bewunderung für dein Durchhaltevermögen,

von einer, die es selbst nie geschafft hat, dich loszuwerden.

Text: Ricarda Richter, Foto: BrigitH / pixelio.de

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Kommentare

Sieben Kommentare
  • dass jeder unbewusst menschen in schubladen steckt.
    nicht umsonst sagt man, dass der erste eindruck der wichtigste ist .
    sobald man einen sieht, entscheidet man ob man den unfreundlich,
    arrogant, zickig ..... findet.
    dagegen kann man gar nichts machen, man kann nur offen dafür sein, den menschen trotztdem richtig kennen zu lernen.
    manchmal ist der erste eindruck richtig und man denkt sich warum hat man nur die zeit dafür augebracht auch nur ein wort mit diesem idioten zu wechseln,
    aber manchmal stecken hinter den selsamsten leuten auch freunde fürs leben !!!
    daher denke ich das man jedem meschen eine chance geben sollte,
    auch wenn man von sich selbst immer denkt, dass man die leute gut einschätzten könnte !

  • Ich denke dass ich nur manchmal Schubladendenkerin bin, aber meistens auch nur um mich zu 'schützen'. Bei einem Mädchen aus meiner Klasse dachte ich sofort :"Was für ne angeberische Schleimerin, die ist bestimmt keine gute Freundin!" Was ist sie? Eine angeberische Schleimerin. Andererseits habe ich bei einer Freundin von mir Anfangs gedacht, sie wäre auch ne blöde arrogante Zicke, aber ist sie nicht. Ich finds dumm, wenn Leute sagen :"Hauptschüler sind voll die Asis!" Oder sobald etwas schlimmes passiert sagen:"Das war bestimmt ein Hauptschüler!" Weil es gibt bescheuerte Hauptschüler (Ich muss es wissen, dass Gymmi und die HS sind im gleichen Gebäude), aber ne Freundin von mir ist auch auf der HS und die is nicht asozial oder so. Einfach ein bisschen faul gewesen in der Grundschule. ch kann andere glaube ich ziemlich gut einschätzen und stecke sie nicht einfach in eine 'Schublade' ohne vorher(oder nachher) genau nachzudenken.

  • Ich kenne da Leute, die Schubladen lieben...

    Ich bin lesbisch, ergo sind alle meine Freunde schwul und Freundinnen lesbisch und alle machen miteinander rum.
    Wenn ich sage "Ihre Katze heißt Bernd.." wird entgegnet "Wie kann man nur... naja in solchen Kreisen is das wohl so" "Ihr seid doch krank" usw.. (Frauchen von Bernd ist aber Hetero und seit langer Zeit mit ihrem Freund zusammen pfft)

    Oder alle Ausländer und Leute mit anderer Hautfarbe sind Verbrecher und gehören weggesperrt..

    Da lebt jemand in der Vergangenheit oder? -.-

    Und selbst hier schiebt sich grad ganz unbewusst und lautlos eine Schublade auf und flüstert "Nazi...?!?!"

    Wir werden die Schubladen wohl nie wirklich los.... Schließlich bieten sie uns ja auch Stauraum..

  • ... auch wenn du, indem du jeden einzelnen als Schubladendenker betrachtetest, auch wirklich alle in die Schublade Schubladendenken steckst. Es gibt bestimmt Leute, die sich nicht so einfach blenden lassen wie alle anderen. Aber natürlich hast du recht, im allgemeinen werden Urteile zu schnell gefällt. Und ich kenne auch das Gefühl, stolz zu sein, wenn ich Vorurteile überwinden konnte :) Am schlimmsten finde ich diejenigen, die sich einfach immerzu an ihren vorgefertigten Meinungen festklammern und nicht loslassen wollen, egal was sie sehen und erleben.

  • so ein brief war längst überfällig, schön, dass ich ihn nun lesen konnte.

    was die erfahrungen angeht: auch über medien glaubt man mit der zeit, gewisse charaktereigenschaften an äußerlichkeiten festmachen zu können. es ist schade, dass manche medien (bild,...) diese macht missbrauchen und dabei nicht aufgehalten werden.

  • "sie beruhen auf Erfahrungen, welche man gemacht hat"
    Nicht jeder hat schon mal nen Nazi in live getroffen oder nen Punk oder nen Emo, und hat Trotzdem Vorurteile, wenn man dann mal einen trifft.

    Vorurteile bilden sich nicht nur aus Erfahrungen, sondern man übernimmt sie von Menschen im eigenen Umfeld.
    Man muss sisch schon bewusst und vehement gegen Manipulation jeglicher Art im ganz normalen Alltag, die nicht mal böse gemeint sein muss, wehren, um völlig frei von Vorurteilen mit Jemandem zu sprechen.
    Bzw. ihn nicht automatisch in eine Schublade zu stecken, bevor man mit ihm gesprochen hat.

  • Teilweise ist es denke ich mal garnicht so schlecht, dass man soetwas wie "Vorurteile" hat, denn sie beruhen auf Erfahrungen, welche man gemacht hat. Und ich denke auch, dass sie fest in uns verankert sind. Wichtig ist nur, dass man im Gespräch seine Vorurteile vergessen kann und sich eines besseren belehren lässt. Und nicht stumpf daran festhält, obwohl einem gerade etwas anderes bewiesen wird!

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