Günter Wallraff hat sich bei der Bild eingeschlichen und in die Lidl-Bäckerei. Was er dort als Mitarbeiter erlebte, hat er in Zeitungsberichten und Büchern festgehalten. Seine Texte gelten als das Paradebeispiel für investigativen Journalismus. SPIESSER.de-Autorin Lina hat ihn über seine Arbeit befragt.
SPIESSER.de: Was war bisher Ihr prägendstes Erlebnis?
Günter Wallraff: Ich war Wehrdienstverweigerer, wurde aber trotzdem eingezogen. Ich war unter anderem geprägt von Gandhi und der Bergpredigt und habe mich standhaft geweigert, ein Gewehr in die Hand zu nehmen. Um meinen Widerstand zu brechen, wurde ich in die geschlossene psychiatrische Abteilung des Bundeswehrlazaretts zu Koblenz eingeliefert und mit dem Ehrentitel – so sehe ich es heute - „Abnorme Persönlichkeit, für Krieg und Frieden untauglich“ wieder in die Freiheit entlassen. Über meine Zwangsrekrutierung habe ich ein Tagebuch geschrieben, das später als Buch mit einem Vorwort von Heinrich Böll erschien. Das war die eigentliche Geburtsstunde des sozialkritischen Journalisten und Schriftstellers.
Wie gelingt es Ihnen, sich in große Konzerne einzuschleichen? Reicht die gute Verkleidung?
Am Anfang brauchte ich keine Verkleidung, da war ich noch nicht so bekannt. Erst später gab es dann Unternehmen, die vor meiner Einstellung warnten. Aber die äußere Verwandlung ist gar nicht die entscheidende: Bart, längere Haare oder Kontaktlinsen, das sind nur Kleinigkeiten. Die Haupttarnung ist, dass man sich zurück nimmt und zuhört. So kann man andere zum Reden bringen. Man muss sich klein machen können. Aber da muss ich mich gar nicht verstellen, das ist meine Begabung. Das Rollenspiel war ganz früh schon existenziell angelegt.
Was haben Sie gemacht, wenn ihre Verkleidung aufgeflogen ist?
Ich habe immer Angst, entdeckt zu werden. Und ich bin auch bereits enttarnt worden. Aber zum Glück haben diejenigen dicht gehalten, weil sie meine Arbeit kannten. Selbst bei der Brotbäckerei von Lidl gab es jemanden, der mir im Nachhinein mitteilte, er hätte mich zwar erkannt, aber da er meine Arbeit schätzt, und um mich nicht zu verunsichern, hat er sich nichts anmerken lassen und hat dicht gehalten. Bei der Bild wäre das natürlich anders gewesen. Eine Arbeit abbrechen musste ich zum Glück noch nie.
Wie machen Sie das bei längeren Recherchen? Lassen Sie Ihr normales Leben hinter sich?
Wenn ich in einer Rolle drin bin, dann fühle ich mich auch so, dann ist das meine neue Identität. Ich nehme damit auch alle Risiken und Beschwerden auf mich, die dazu gehören. Ich würde ja auch meine Kollegen im Stich lassen, wenn ich bei schlimmsten Arbeitseinsätzen abbrechen würde. Nach einigen Wochen träume ich dann oft auch schon in der neuen Existenz.
Am Anfang hab ich von dem Lohn, den ich in den Fabriken verdient habe, gelebt. Allerdings hat sich mein Lebensstil durch die höheren Auflagen, die meine Texte heute haben, auch nicht in Richtung Luxus geändert. Trotzdem bedeutet er viel mehr Unabhängigkeit für meine Arbeit: Ich muss nichts verschweigen oder vorsichtig formulieren, weil ich mir Prozesse leisten kann.
Gab es schon Kritik an Ihnen, die Sie hart getroffen hat?
Zum Beispiel die Hetzkampagne der Bild. Da bekam ich den Titel „Untergrundkommunist“ verliehen, obwohl ich nie Mitglied einer kommunistischen Partei war. Mehrfach erschien ein Foto von mir, das nach meiner Folterhaft im damals faschistischen Griechenland gemacht wurde. Darauf sah ich abgezehrt und auch etwas entgeistert aus. Bild untertitelte: „Günter Wallraff - so kennt ihn jeder. Wie aus einem Lehrbuch der Psychatrie entsprungen.“
Ich bin offensiver und offener geworden. Das hat denen letztendlich mehr geschadet als mir.
Bei der Bild gibt es Leute, die durchaus Parallelen zwischen Ihrer Vorgehensweise und der Arbeit eines Bild-Journalisten sehen. Ein ehemaliger Chefredakteur äußerte sogar den Wunsch, jemanden wie Sie engagieren zu können.
Also wissen Sie, ein aufklärerischer Mensch wie ich, der wäre bei Bild absolut fehl am Platz. Wo diese Zeitung anfängt, da hört meine Methode auf. Die Bild greift in das Privatleben von Menschen ein, dabei hat das im Journalismus nichts zu suchen. Meistens geht die Bild auch auf hilflose Menschen los, die sich nicht wehren können oder die sowieso am Pranger stehen. Da wird Journalismus als Menschenjagd betrieben. Ich bin im Besitz von Abschiedsbriefen von Menschen, die sich nach verleumderischen Bild-Geschichten das Leben genommen haben. Da hat Bild im wortwörtlichen Sinne Rufmord betrieben.
Haben Sie manchmal das Gefühl, Ihre Reportagen vertiefen einseitige Feindbilder?
Nein, bei mir wird das Problem nie personifiziert oder hysterisiert. Da wird nicht auf eine einzelne Person eingeprügelt. Andere Medien machen das so, das konnte man zum Beispiel bei der Doping-Geschichte mit Jan Ullrich beobachten. Ich habe immer nur Konzerne und Strukturen ins Spiel gebracht. Sündenböcke schaffen liegt mir nicht. Ich beurteile den Menschen danach, in wieweit er seinen Spielraum nutzt, um menschlichere und sozialere Bedingungen zu schaffen.
Was fanden Sie in Ihrer Jugend ungerecht?
Das war eine Zeit, die man heute gar nicht mehr nachvollziehen kann. Man hatte als Jugendlicher fast Erstickungsanfälle: Schuldige aus dem Nationalsozialismus bekleideten immer noch hohe Ämter. Ein jüdischer Mitschüler, dessen Angehörige in Auschwitz ermordet worden waren, hat das nie zur Sprache gebracht und auch die Lehrer haben es nie thematisiert. Der Holocaust, das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte!
Als ich die ersten Jeans trug, war meine Mutter verzweifelt, „da nun die Nachbarn über uns herziehen würden“. In der Buchhandlung, in der ich meine Lehre machte, durfte zum Beispiel der Spiegel nicht offen herumliegen. Der war dem Inhaber, einem Deutschnationalen, zu linksradikal.
Diese ganze Engstirnigkeit hat mich massiv belastet. Aus dieser Enge musste ich mich rauskatapultieren. Ich war immer schon ein Verweigerer, das ist heute noch so. Da wo die Massen dem jeweils neuesten Trend hinterher hecheln und jubeln, da bin ich erst mal skeptisch.
Wenn Sie den 16 Jährigen Günter Wallraff mit dem von heute vergleichen, was hat sich verändert?
Damals war ich sehr introvertiert, sehr schüchtern, sehr zurückgezogen. Wenn es so etwas früher schon gegeben hätte, wäre ich vielleicht in ein Zen-Kloster eingetreten.
In meiner Jugend war ich ein Außenseiter. Erst durch diese Rollen, dadurch, dass ich mich in andere hinein versetzt habe, konnte ich meine eigene Identität finden und wurde selbstbewusster und sozial engagiert.
Was lesen Sie gerne?
Als Kind war es Till Eulenspiegel. In meiner Jugend zum Beispiel Hašeks „Der brave Soldat Schwejk“, der frühe Böll, Wolfgang Borchert, dessen Stück „Draußen vor der Tür“ ich auswenig konnte und in dessen Stil ich Schulaufsätze schrieb. Aber auch Jack London hat mich begeistert. Später auch Upton Sinclair und Egon Erwin Kisch. Heute bin ich ein Vielleser und ich könnte ihnen jetzt Dutzende Namen nennen, was aber den Rahmen hier sprengen würde.
Was müssen Sie unbedingt beachten, um bei Ihrer Arbeit keine rechtlichen Probleme zu bekommen?
Durch die ganzen Prozesse habe ich zwangsläufig juristische Kenntnisse erworben. Ich lege großen Wert darauf, alle Fakten, die ich veröffentliche auch vor Gericht belegen zu können. Von daher habe ich immer mehrere Zeugen und genügend eidesstattliche Erklärungen. So habe ich alle meine Prozesse bisher gewinnen können, so dass meine Bücher in weiten Teilen gerichtsbeglaubigte Bücher sind. Allerdings klagen die meisten Unternehmen inzwischen nicht mehr, weil Prozesse ja zu noch mehr öffentlicher Aufmerksamkeit führen.
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Klagt wirklich niemand?
Lidl habe ich sogar aufgefordert, gegen mich zu klagen. Die werden einen Teufel tun. Dann würden noch mehr Leute erfahren, zu welchen Hungerlöhnen und unter welchen unmenschlichen Arbeitsbedingungen die zum Beispiel ihre Brötchen produzieren lassen.
Bild dagegen hat über Jahre versucht, mich zu verklagen, weil ich mich unter Täuschung und mit anderen Papieren bei ihnen eingeschlichen habe. Aber das Oberste Gericht, der BGH hat entschieden, dass es sich bei der Zeitung um eine „Fehlentwicklung im deutschen Journalismus“ handle. Meine Methode ist also legitim, weil die Aufklärung der Öffentlichkeit höher steht, als wirtschaftliche Interessen. Seitdem hat sich der Spielraum für Journalisten und für die Pressefreiheit erweitert.
Gibt es für Sie irgendeinen Grund, über einen entdeckten Missstand nicht zu berichten?
In manchen Fällen habe ich tatsächlich etwas zurückgehalten, um Arbeitsplätze nicht zu gefährden. Das ist von Fall zu Fall unterschiedlich und muss mit den Beschäftigten abgesprochen werden.
Was macht für Sie einen guten Artikel aus?
Wahrhaftigkeit, Verständlichkeit, Nachvollziehbarkeit...Dass es auch von denen verstanden wird, die bisher wenig Interesse an dem Thema gehabt haben. Und der Versuch, Verbesserungen anzustoßen.
Was geben Sie jungen Journalisten mit auf den Weg?
Lernt noch einen zweiten, anderen, anständigen Beruf! Es gibt so viele die in Journalismusberufe rein wollen, aber anschließend in irgend einem Berichterstatter-Tross landen und alles das, was sie vielleicht mal an Prinzipien hatten, verraten. Aus Existenzgründen. Darum auf jeden Fall noch einen Zweitberuf, der sie ernährt. Und Sprachen lernen.
Das Interview war sehr interessant und Günter Wallraff wurde mir sympathisch. Anschließend informierte ich mich auf 'youtube' ein wenig mehr. Die TV-Reportage von WDR "Wo Arbeit weh tut" finde ich aber ehrlich gesagt seltsam. Ich weiß nicht, was ich glauben soll - irgendwie übertreibt Wallraff auch, glaube ich.
Ich finde dieses Interview sehr gut. Günter Wallraffs Methode, Missstände aufzudecken, finde ich genial.
Besonders schockierend finde ich, dass Menschen sich umbringen, weil die Bild sie derartig bloß gestellt hat, das sie keinen Sinn mehr in ihrem Leben sehen. Es ist nur richtig, dass solche Skandale an die Öffentlichkeit kommen. Ich verstehe nicht, wieso soviele Menschen die Bildzeitung kaufen !
Ich habe diesen Bericht wirklich gern gelesen :)
Also ich habe auch zwei Berufe gelernt, hol jetzt mein Abitur nach und möchte dann studieren. Es heißt doch schließlich immer lebenslanges lernen ;-)
Bildung für Alle - und zwar umsonst!
Tip: "Man muss sich verkleiden, um die Gesellschaft zu demaskieren, muss täuschen und sich verstellen, um die Wahrheit herauszufinden", schreibt Günter Wallraff in GANZ UNTEN über die Undercoverrecherche. Dass diese Arbeitsweise ein Leben verändern kann und einen Menschen an seine körperlichen und seelischen Grenzen führen hat er oft festgestellt. Auch Markus Breitscheidel hat sein Leben umgekrempelt, freiwillig und ganz bewusst. Nach einer intensiven Begegnung mit Wallraff gab er seinen sicheren Beruf auf und begann, undercover zu recherchieren. Zuerst beschrieb er in ABGEZOCKT UND TOTGEPFLEGT den Alltag als Hilfskraft in deutschen Pflegeheimen. Nun hat er in ARM DURCH ARBEIT versucht, als Leiharbeiter im deutschen Niedriglohnsektor zu überleben. In beiden Fällen hat er sich der Methoden des investigativen Journalismus bedient und sich mit einer falschen Identität direkt in diese gesellschaftlichen Brennpunkte katapultiert.
Ich durfte Herrn Breitscheidel live auf einer Lesung erleben, ich kann nur sagen, seine Bücher zu lesen lohnt und schockiert...
nicht das ich jounarlist werden will, aber so mehrer jobs auszuprobieren wär schon cool...cih versteh nur nicht warum Imchen sich hier über bild beschwert, ich mein wer nimmt die denn noch ernst, wenn man von bevölkerungsteilen mit niedrigerem Bildungsstand absieht, welche sich ehh nicht über bestimmte biografien informieren?
...wenn man was anderes lernen und dennoch Journalist werden kann. ;D
Somit kann man mehrere Interessenfelder abdecken. Lediglich eine Journalistenschule zu besuchen oder gar Journalismus zu studierenzu, da bliebe zumindest bei mir zuviel Neugier auf andere Fächern ungestillt.
Sehr intressant, ich muss zugeben ich hab vorher noch nie von ihm gehört und werde mir jetzt gleich mal Texte von ihm angucken.Allerdings finde ich es immer wieder ernüchternt,dass man von allen höhrt man solle niemals Journalist werden, mindenest noch einen anderen Beruf.