15) Der Lieblingsort von Goranka ist Belgrad. Ihre sehr persönliche Erklärung dafür hat sie mit einem Text geliefert, der bei einem Besuch in Belgrad entstand:
"An Schlaf war nicht zu denken. Eine innere Unruhe hat mir die Nacht geraubt. Klarer Sonnenschein kündigt den neuen Tag an, doch meine Gedanken sind noch immer getrübt. Ich kann es nicht fassen, dass mich dieser Zug in die Stadt bringen soll, mit der mich so vieles unsichtbar verbindet. Die Landschaft rauscht an mir vorbei. Jeder Baum, jeder Berg bringt mich ein Stück näher. Die Orte gehen in Erinnerungen über. Die Dunkelheit der Tunnel versetzt mich in meine Kindheit zurück. Es waren besondere Reisen. Eine besondere ist es auch heute, nur auf eine andere Weise. Die Perspektive hat sich mehrfach geändert. Die Straßen sind Gleisen gewichen, meine Reisebegleitung sind jetzt meine Kommilitonen. Vor allen Dingen aber ist das Bewusstsein für das Ziel ein stärkeres. Melancholie macht sich breit. Sie kommt wohl erst mit dem Alter. Das Vergangene kann ich trotzdem kaum verstehen. Die Grenzen wirken wie Hindernisse auf dem Weg in die Hauptstadt des Landes, das heute nur noch ein Bruchteil dessen ist, was meine Eltern Heimat nennen. Ich kann es nicht abwarten, da zu sein, sehe die Lichter vor mir. Sieben Buchstaben fügen sich harmonisch zusammen und lächeln mich an.
Beograd – ich lerne diese Stadt jedes Mal aufs Neue kennen. Es scheint, als hätte sie vor jedem neuen Besuch einen anderen weißen Anstrich bekommen. Fremd ist sie dabei nie. Ich fühle mich wie in einem Déjà-vu. Ob es beim Abendessen im Bohème-Viertel oder beim Bummel durch die Fußgängerzone ist, hier fühle ich mich geborgen. Ich schlendere über den Kalemegdan, halte inne, lasse meinen Blick schweifen und genieße die Ruhe. Vor meinem inneren Auge sehe ich meine kleine Cousine, höre, wie sie im Vergnügungspark mit verträumtem Blick diesen einen Satz sagt. Meine Wurzeln drängen nach draußen. Sie durchwühlen mich innerlich, bis sie Halt gefunden haben. Es ist einer dieser Augenblicke, denen das Herz unterlegen ist. Hier will ich für immer bleiben.
Ich begreife noch immer nicht, dass sich die Reise ihrem Ende neigt. Ich werde die Herzlichkeit Belgrads vermissen. Die liebevolle Art der Menschen lässt sich nicht beschreiben, man muss sie fühlen. Die Lebensfreude ist an jeder Ecke zu spüren. Ich möchte sie am liebsten umarmen und nicht mehr loslassen. Möchte mich den Belgradern anschließen und einfach nur im Jetzt verweilen. Möchte nicht an die Verpflichtungen denken, die mich in der deutschen Realität erwarten. Aber wer weiß – vielleicht träumt es sich gerade zu Hause am schönsten von Daheim."
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