Es ist mein zweiter Schultag nach den Sommerferien, Einschulungstag für die neuen Fünftklässler am Carolus-Magnus-Gymnasium im nordrhein-westfälischen Übach-Palenberg. Sie sind aufgeregt, laufen durcheinander, begrüßen alte Freunde und halten Ausschau nach neuen. Ein Junge in einer schwarzen Jacke fällt mir besonders auf. Er spricht kein Wort und sieht sich ängstlich um. Im Klassenzimmer behält er die Jacke an. Die Tasche umklammert er auf dem Schoß, als ob er immer auf dem Sprung wäre, bereit zur Flucht.
Seit Anfang des neuen Schuljahres besuchen 17 Flüchtlinge meine Schule. 17 Schüler, die niemanden kennen und kein Deutsch sprechen. Deshalb hat die Schule eine internationale Flüchtlingsklasse (IFK) für den zusätzlichen Deutschunterricht eingerichtet und Materialien zum Deutschlernen angeschafft.
Aber die Schülervertretung weiß, dass die Sprache zu lernen oft nicht genug ist, um die neuen Schüler zu integrieren. Deshalb möchte sie auch von Seiten der Schülerschaft die „Fremden“ als Freunde willkommen heißen. „Die Integration beginnt oft in der Schule, daher müssen auch wir Schüler den Flüchtlingen helfen, dass sie sich hier wohlfühlen“, fasst der Schülersprecher Lukas Bärwald zusammen.
Schule ohne Rassismus
Also rief die Schülervertretung die Schüler auf, Patenschaften zu übernehmen oder Nachhilfe zu geben und startete eine Spendenaktion. Zu einer ersten Informationsveranstaltung für alle interessierten Schüler kamen spontan 70 Schüler. Von diesem Engagement war selbst die Schülervertretung überrascht und postete stolz auf Facebook: „Damit wird einmal mehr deutlich, dass wir den Titel ‚Schule ohne Rassismus' mit Stolz tragen können!“
Nun können alle Flüchtlinge, die Schüler am Carolus-Magnus-Gymnasiums sind, außerhalb der IFK noch Nachhilfeunterricht durch Oberstufenschüler bekommen. Eine Schülerin, die sich freiwillig gemeldet hat, ist die 17-jährige Abiturientin Judith. Sie hilft zweimal wöchentlich in der Bücherei Flüchtlingen bei den Hausaufgaben, korrigiert Deutschfehler oder hört ihnen oft nur zu.
„Hier fühle ich mich wohl“
Heute sitzt Judith mit den drei Mädchen Klodiana, Gzime und Ayela zusammen. Die 15-jährige Klodiana ist zusammen mit ihrer Mutter und drei Geschwistern aus Albanien vor dem Vater geflohen, der die Familie oft schlug. Seit sechs Monaten leben sie schon hier. Ihr Vater war der Familie gefolgt und wurde zurückgeschickt. Nun lebt Klodiana in ständiger Angst, dass ihr Vater auftaucht. Dabei habe sie in Albanien eigentlich gerne gelebt, gibt sie zu. „Aber hier fühle ich mich wohl, solange ich vor meinem Vater sicher bin.“ Ihr Traum ist, Polizistin zu werden. Egal wo.
Ihre neue Freundin Gzime, 14 Jahre alt, findet keine Antwort, als ich sie nach ihren Zukunftsträumen frage. Gestern habe ihre Familie ein „Papier“ bekommen. In ein paar Tagen werde die Familie nach Mazedonien abgeschoben. Dieser Tag ist wahrscheinlich einer ihrer letzten in Deutschland.
Flüchtlinge als Freunde
Dass das einfach mal „Reden“ so wichtig ist, bestätigt mir auch der 17-jährige Can. Er betreut als Pate den gleichaltrigen Omar, der ganz allein von Guinea nach Deutschland gekommen ist. Die zwei verbringen öfters ihre Freizeit zusammen. Can zeigt Omar die Stadt, geht mit ihm zusammen im Imbiss essen. „Es ist eine ganz normale Freundschaft“, freut sich Can.
Seit Juni 2014 sind mehr als 200 Flüchtlinge in der nordrhein-westfälischen Kleinstadt Übach-Palenberg angekommen. 15 Prozent von ihnen sind Kinder. 17 von ihnen gehen auf das Carolus-Magnus-Gymnasium.
Die Patenschaft erwies sich schon als äußerst wichtig. Durch die viele Zeit, die Can mit dem jungen Afrikaner verbrachte, gewann Omar langsam Vertrauen und erzählte ihm sein großes Problem. Zuerst lebte der unbegleitete minderjährige Flüchtling in einer WG mit mehreren anderen jungen Männern aus dem Balkan. Tag und Nacht habe es Streit und sogar Gewalt gegeben. Nicht nur, dass Omar so weder schlafen noch lernen konnte, er hatte auch Angst und wusste keinen Ansprechpartner.
Nach dem Gespräch ging Can mit Omar sofort zur stellvertretenden Schulleiterin Dr. Renate Schwab, die Kontakt mit der Stadt aufnahm. Noch am selben Tag konnte Omar umziehen und lebt nun mit zwei Familien zusammen. Jetzt fühlt er sich wohl und möchte versuchen, in Deutschland bleiben zu dürfen und hier etwas zu erreichen.
„Bereicherung für die Schule“
Die Initiative, Flüchtlingskinder aufzunehmen, kam ursprünglich vom Schulleiter Dr.Hans Münstermann. Auf ausländische Schüler, die am Anfang kaum ein Wort Deutsch sprechen, sei die Schule eingestellt, erklärt er mir. Seit Jahren kommen immer wieder Kinder von Soldaten an die Schule, deren Eltern zeitweise in der Nato Air Base in der Nachbarstadt stationiert sind. Er selbst leitet die neue Integrationsklasse. Damit engagiert er sich genauso ehrenamtlich wie Anneli Harling, die schon seit Jahren die Nato-Schüler betreut und nun auch die Flüchtlinge unterrichtet.
Erfahrung habe die Schule seiner Meinung nach genug und außerdem „passe es zu unserer Schule und der Schülerschaft, sich um Kinder zu kümmern, die hilfsbedürftig sind“. Für ihn sei es bemerkenswert zu sehen, wie unglaublich offen und interessiert die Flüchtlinge sind und sie sofort von den deutschen Schülern akzeptiert und integriert werden: „eine Bereicherung für unsere Schule.“
Spenden für andere Projekte
Lukas Bärwald (Schülersprecher) und Nele Altana
(stellvertretende Schülersprecherin) sind auf die gesammelten
Spenden für Flüchtlinge stolz wie Bolle.
Neben der persönlichen Betreuung sammelt die Schülervertretung auch Spenden, um allen Flüchtlingen in der Stadt Übach-Palenberg zu helfen. Über den Zweck der Spenden berät sich die Schülervertretung mit örtlichen Projekten wie beispielsweise dem Flüchtlingshilfeverein. „So wird das Geld denjenigen zur Verfügung gestellt, die es am Dringendsten brauchen“, erklärt Lehrer Christoph Schlagenhof. Darüber hinaus gehen 6.000 Euro der gesammelten Spendengelder des letzten Jahres an die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“, die unter anderem die vielen Flüchtlinge versorgt, die über das Mittelmeer nach Europa kommen.
Vier Wochen nach Schulbeginn fällt mir ein kleiner Junge in einer schwarzen Jacke auf. Er stürmt mit ein paar anderen Jungen die Treppe hinunter und an mir vorbei. Sie spielen Hascher und lachen. Es ist der Junge vom zweiten Tag. Seine Jacke kam mir bekannt vor. Ihn selber hätte ich fast nicht wiedererkannt. Das macht mir Mut, dass die Integration an meiner Schule gelingt.
Text und Fotos: Annika Wunsch
Dankeschön :)
Der Artikel an sich ist ja schon klasse. Und wenn es darin dann noch um so ein schönes bzw. sensibles Thema geht ist doch alles gut.
Echt guter Artikel
Props and dich