Viele Menschen sind der Meinung, politische Debatten könnten aus neutralen Blickwinkeln geführt werden. Aber wem wird zugestanden, diese objektiven Standpunkte einnehmen zu können – und viel wichtiger: wem nicht? SPIESSER-Kolumnist Pierre zweifelt stark an der Existenz einer völlig neutralen Berichterstattung.
17. February 2021 - 14:33 SPIESSER-Autorin Cherilia.
Im letzten Juni kam ein Bekannter mit einem für ihn wirklich alarmierenden Anliegen auf mich zu. Es war kurz nach dem rassistischen Mord an George Floyd, als in den Medien endlich vermehrt über Polizeigewalt und die Black Lives Matter-Bewegung berichtet wurde. Mein Bekannter, der weiß, männlich und damit sehr privilegiert ist, konnte einfach nicht verstehen, warum zu dem Thema vor allem Meinungen von People of Color veröffentlicht wurden. Als politisch eher in der „Mitte“ eingestellter Mensch vermisste er dabei die „neutrale“ Berichterstattung. Und das war definitiv nicht das erste Mal, dass ich mir diese Beschwerde anhören musste – von einer Person wie ihm, die wirklich keine Angst haben muss, ihre Stimme zu verlieren.
Ich finde, betroffenen Personen wird viel zu oft vorgeworfen, zu tief in eine Thematik verwickelt zu sein, um vernünftig argumentieren zu können. Es heißt dann schnell, ihnen fehle „der objektive Blick“. Was mich daran stört: Es wird davon ausgegangen, dass es nicht betroffenen Menschen möglich ist, eine Art neutralen Standpunkt einzunehmen. Sie verträten dann „vernünftige“ Positionen, während Betroffene, in diesem Fall eben People of Color, nur auf ihre Emotionen reduziert werden.
Dabei ist es doch völlig absurd, davon auszugehen, dass ein solcher „neutraler Standpunkt“ überhaupt existiert. Jede Person – ob nun betroffen oder nicht – bindet ihre eigenen Interessen, Erfahrungen und Emotionen in ihre Argumentation mit ein. Auch und vor allem privilegierte, in diesem Fall weiße Personen. „All Lives Matter“ zu behaupten ist nicht weniger emotional als „Black Lives Matter“ zu sagen. Nur wird die erste Aussage viel öfter von Personen getätigt, die weiß sind und damit einer gesellschaftlichen Norm entsprechen.
Einer Norm anzugehören setzen wir somit schnell gleich mit Objektivität. Als schwebten diese „neutralen“ Personen in einem luftleeren Raum außerhalb gesellschaftlicher Verhältnisse und könnten von oben auf das Geschehene blicken. Die US-amerikanische Feminismusforscherin Donna Haraway nennt dieses Phänomen in ihrem 1988 erschienenen Text Situated Knowledges den „Gottestrick“. Und es ist genau das: ein Trick. Wenn ein journalistischer Beitrag zum Beispiel von einer weißen Person geschrieben wird, wird das meistens nicht erwähnt. Verfasst ihn eine Person of Colour, wird das jedoch explizit gemacht und kommt uns dann natürlich wie eine Abweichung vor. Dann bekommen wir das Gefühl, ihren Aussagen skeptischer gegenüberstehen zu müssen.
Dabei sollten wir umgekehrt eher skeptisch sein, wenn von so etwas wie einer „neutralen“ Berichterstattung ausgegangen wird. Das bedeutet dann meistens, nicht zu hinterfragen, wer hier spricht, obwohl das einen immensen Einfluss auf das hat, was gesagt wird. Und das führt dann dazu, nur die immer gleichen Stimmen zu Wort kommen zu lassen.
Text von Pierre Hofmann
Teaser-Grafik: Lena Schäfer
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